Ein kleiner Streit entspann sich, während das betroffene Tier noch immer im Stil des Angeknockten über den Weg torkelte, sein Weibchen in gebührendem Abstand hinter ihm. Nun bereits unbeachtet von den Badegästen, die fortgesetzt über Tauchzeiten bei Menschen und Tieren diskutierten oder sich wieder ihren Büchern und Cremes und Tageszeitungen und elektronischen Geräten zugewandt hatten (einige zum Thema des Luftanhaltens googelnd).
Als am nächsten Tag das Entenpaar in der bekannten Art auf dem Bergwasser landete, schien der Erpel vollständig hergestellt zu sein. Es war noch recht früh am Tag und nur wenige Leute im Wasser. Die zwei Tiere trieben auf den schwachen Wellen, die einige Dauerschwimmer verursachten (nie haben Menschen langsamer gekrault, ohne dabei unterzugehen).
Ich spazierte am Beckenrand entlang und beobachtete das Entenpaar. Dabei sah ich, daß das männliche Tier noch immer das eine Auge geschlossen hatte. Ich fragte mich, ob es möglich war, daß der kleine Kerl einen Schlaganfall erlitten hatte und sein rechtes Auge — besser gesagt, das schlaffe Lid — nun eine Folge davon war, so wie bei Menschen die herabhängenden Mundwinkel. Immerhin schien die Persönlichkeit des Enterichs sich nicht verändert zu haben. Er war nicht unverschämter als üblich, schwamm nicht näher als zuvor an die Badenden heran, wirkte aber auch nicht scheuer oder ängstlicher, zudem war seine Partnerin wieder in der gewohnten Weise an seiner Seite und er an der ihren. Nur das eine Auge war zu, und das würde auch in Zukunft so bleiben.
Einige der Gäste tauften ihn darum Einauge. Sie schauten in den Himmel, und wenn zwei Punkte sich näherten, sagten sie:»Ah, da kommt schon wieder Einauge.«
Das Weibchen aber blieb ohne Namen. Wie es schien, war es die Deformation, der Defekt, das Stigma, welches die Menschen animierte, Dingen Namen zu geben, die sonst keine besaßen. Oder sich Namen verunfallter Dinge besser zu merken als andere. Kein Schiffsname war so bekannt wie der eines untergegangenen Dampfers. Selbst die Queen Elizabeth konnte da nicht mithalten.
Jedenfalls rechnete man mir hoch an, Einauge gerettet zu haben. Obgleich ich eigentlich befürchtet hatte, einiges an Spott aushalten zu müssen. Aber nichts dergleichen geschah. Die meisten Leute betrachteten das Vorgefallene mit größtem Ernst. Selbst jene, die prinzipiell oder aus hygienischen Gründen gegen die Ente waren, begrüßten mein Einschreiten. Auch wenn der eine oder andere die Enten gerne tot gesehen hätte, nicht auf diese Weise, nicht durch einen Schlaganfall, der zum Ertrinken führte. Hätte die Stadt für die Rettung von Enten Medaillen vorgesehen, man hätte sie mir gegeben.
Was ich dann eine Woche später erhielt, war ein Anruf. Es war Mercedes. Ich dachte, er wollte sich bedanken für die kleine Serie von iPad-Bildern, die ich auf der Berghütte aufgenommen und ihm geschickt hatte. Er aber sagte:»Herr Braun, ich habe Ihre Schwester getroffen.«
«Wie bitte?«
Zur Erinnerung: Ich hatte Astri ihm gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Und soweit ich wußte, hatte auch Kerstin nicht über meine Schwester geredet oder gar erzählt, daß Astri genau an diesem Berg ums Leben gekommen war. — Nun, vielleicht meinte er jemand anderes, den er fälschlicherweise für meine Schwester hielt. Ich fragte:»Welche Schwester?«
«Astri natürlich.«
«Wie soll ich das verstehen?«
«Ich war nie jemand«, sagte Mercedes,»der sich gut an seine Träume, erinnern konnte. Das ist jetzt aber anders. Seitdem Ihre Schwester bei mir auftaucht, erinnere ich mich an meine Träume, wie man sich an das erinnert, was gestern oder vorgestern geschehen ist.«
Sowenig er sich im Traum darüber bewußt sei zu träumen, so klar und deutlich sei hinterher seine Erinnerung an das Geschehene. Und eben auch, daß in all diesen Träumen Astri in Erscheinung trete. Mercedes sagte:»Sie verlangt von mir, daß ich ihr das Messerwerfen beibringe.«
«Meine Güte, wozu das denn?«fragte ich.
«Ja, das wollte ich auch von ihr wissen.«
«Und?«
«Sie sagt, weil es sie interessiere und sie im Leben dazu nie die Gelegenheit gehabt habe. — Aber ich glaube ihr das nicht.«
Ich erwähnte nun, ihm gegenüber niemals von Astri erzählt zu haben.
«Ja«, sagte er,»aber sie von Ihnen. Sie hat mir gleich gesagt, wer ihr großer Bruder ist und welcher Berg es war, an dem sie gestorben ist. Wobei mir scheint, daß sie gar nicht weiß, was wirklich geschehen ist damals. Sie zermartert sich das Hirn, aber … Absurd, nicht wahr, daß Ihre Schwester in meinem Traum ist und ich auch noch behaupte, sie würde sich ein Hirn zermartern, welches längst zerfressen und zerfallen ist.«
Erst in diesem Moment wurde mir so richtig bewußt, daß Astri seit der Nacht, die ich mit Simon im Bergwerk zugebracht hatte, nicht wieder in meinen Träumen aufgetaucht war. Beziehungsweise hätte ich nicht sagen können, was zuletzt in meinen Träumen geschehen war. Hätte ich in einem davon einen Mord begangen, ich hätte jetzt dagestanden ohne die geringste Ahnung und ohne das geringste Schuldgefühl. Hätte es deswegen einen Prozeß gegeben, ich hätte mit gutem Gewissen auf unschuldig plädiert.
Anders ging es Mercedes, der offensichtlich begonnen hatte, Nacht für Nacht meine Schwester in der Fertigkeit des Messerwerfens zu unterrichten. Und zwar mit dem unangenehmen Gefühl, mehr als ein Interesse zu fördern, mehr als die pure Freude — und sich auf eine gewisse Weise schuldig zu machen.
Ich sagte ihm:»Sie könnten sich weigern.«
Er aber meinte:»Ihre Schwester ist sehr überzeugend.«
«Droht sie Ihnen?«
«Nein, aber sie kommt einfach, wie es ihr paßt. Und ich bin in diesen Träumen ziemlich stumm. Argumente fallen mir erst ein, wenn ich aufwache. — Ich würde das alles gerne mit Ihnen besprechen, aber nicht am Telefon.«
«Wieso? Werden Sie abgehört?«
«Wir werden alle abgehört«, sagte Mercedes.»Aber das ist es nicht. Mir wäre einfach lieber, wenn Sie hier sind. Ich würde Sie und Ihre Frau und Ihr Kind gerne einladen, nach Tirol zu kommen.«
«Da waren wir doch gerade.«
«Ich würde mich trotzdem freuen, wenn Sie kommen könnten. Übers Wochenende oder auch länger, ganz wie Sie mögen.«
«Ich muß arbeiten und das Kind in die Schule gehen.«
«Ich kann Sie nur bitten«, sagte Mercedes, der übrigens weder Tiroler noch Österreicher war, sondern aus dem Norden Deutschlands stammte. Während es sich bei seiner Frau, der Pianistin, um eine Italienerin handelte: Clara Foresta. Ich hatte sie gegoogelt — das tat man heutzutage mit der gleichen Unverschämtheit, mit der man an fremder Unterwäsche schnüffelte — und festgestellt, daß sie in den Sechzigern und Siebzigern durchaus berühmt gewesen war, dann aber in Vergessenheit geriet. Einige Kritiker hatten sie mit dem frühen Glenn Gould verglichen. Wie dieser war sie vor allem durch ihre Interpretationen Bachs aufgefallen, hatte sich daneben aber auch den Kompositionen eines Tonkünstlers gewidmet, von dem nicht klar gewesen war, ob er tatsächlich gelebt hatte oder von ihr erfunden worden war. Diese Geschichte hatte sie in Verruf gebracht — der Verdacht, eine Fälschung begangen zu haben — und letztendlich auch ihre Karriere ruiniert. Heutzutage kannte kaum noch jemand ihren Namen. Sowenig wie den Namen des Komponisten, den sie entdeckt oder erfunden hatte.
Nun gut, allein diese Person kennenzulernen hätte als Grund für eine Reise genügt.
«Weiß Ihre Frau von Astri?«fragte ich.
«Um Gottes willen, nein!«rief Mercedes aus und fragte:»Werden Sie kommen?«
Ich sagte ihm, ich wolle es mir überlegen.
Er darauf:»Wir müssen feststellen, was Ihre Schwester vorhat.«
«Meine Güte, sie ist tot.«
«Mir kommt sie sehr lebendig vor«, sagte Mercedes.»Und im übrigen ist sie absolut talentiert.«