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«Sie meinen im Messerwerfen?«

«Ja.«

Ich versprach, mich zu melden, sobald ich eine Entscheidung getroffen hatte.

Am Abend diskutierte ich die Sache mit Kerstin, die Einladung, nicht den Umstand, daß es um Astri und ihre» Lebendigkeit «in den Träumen des Herrn Mercedes ging.

Kerstin war sehr dafür, die Reise zu machen. Diesmal ohne Auto, uns auf die Bahn verlassend.

«Du nimmst dir ein paar Tage frei«, sagte sie,»und wir fahren schon Donnerstag und kommen Montag zurück.«

«Da müßte ich Simon für drei Tage von der Schule befreien lassen.«

«Na und? Davon wird die Schule nicht umkommen und der Simon auch nicht.«

Nun, eine Menge Schüler hätte das sofort doppelt und dreifach unterschrieben. Ich konnte mir sogar eine kleine Lüge ausdenken, ohne daß später die Gefahr bestand, daß Simon sich und mich verriet. Verstand ihn ja keiner.

Allerdings würde sich erst die nächste Woche ausgehen, einerseits wegen meines Dienstplans und andererseits, weil Simon vorher noch an einem Kletterwettbewerb teilnahm.

In welchem er sodann in einer Weise brillierte, die ohne Hysterie auskam, obgleich der Wettbewerb an sich voll von Hysterie war, angefangen beim Moderator, der unter Drogen schien und in sein Mikro brüllte, als wäre dieses sein größter Feind. Simon und Mick, sein Trainer, blieben hingegen ruhig und gelassen. Simon kletterte auf und davon. Und als man ihn interviewte, sagte er:»Gleifax — dr!«Alle nickten.

Wenige Tage nach Simons Triumph brachen wir zu unserer zweiten Reise nach Tirol auf. Wir hatten ein Abteil für uns, und ich war sehr froh, diesen Zug nicht selbst steuern zu müssen.

28

Kerstin saß mir und Simon gegenüber, hatte Kopfhörer in den Ohren und Musik im Kopf und beide Augen geschlossen. Offen hingegen war das Auge, das Simon soeben zeichnend zu Papier brachte. Der Junge versetzte mich immer wieder in Staunen. Ich sah ihm zu, wie er da mit feinem Strich ein neues Bild auf seinem Block entstehen ließ. Und zum zweiten Mal ein gegenständliches, auch wenn die anfängliche Schraffur etwas Abstraktes nahelegte. Aber im Detail war eben so gut wie alles abstrakt: das Deckblatt eines Käfers genauso wie der winzige Ausschnitt eines Computerbildschirms, der Seifenschaum genauso wie ein gedruckter Buchstabe. Ging man nahe genug an einen Buchstaben heran, blieb nur ein schwarzes Tableau von einiger Tiefenwirkung übrig — ein Abgrund.

Im Falle von Simons Zeichnung erwies sich die anfänglich so ungegenständliche Struktur als eine Anordnung von Federn. Federn, die zu einer Ente gehörten. Ja, das, was hier auf dem Blatt Papier nach und nach zu einer bestens vertrauten Kreatur anwuchs, war eine Stockente. Und ganz zum Schluß erhielt dieses im Profil dargestellte und gegen den Westen des Papiers ausgerichtete Tier eben ein Auge, ein offenes, sein linkes.

Nicht, daß Simon dabeigewesen war, als ich die Ente gerettet hatte. Er hatte dieses Tier nie gesehen, nicht vor und nicht nach dem Unfall. Allerdings hatte ich am Abend der Rettung Kerstin davon erzählt, und da war auch Simon dabeigewesen. Klar, er kannte diese Tiere aus der Schule und aus der Natur — dort, wo die Stadt Natur war. Das Wort» Ente «war ihm freilich noch nie über die Lippen gekommen. Die Zeichnung jedoch war so perfekt wie jene, die er oben am Astri-Berg geschaffen hatte.

Worauf ich nun wirklich keine Antwort geben konnte, war die Frage, ob es sich bei der von Simon so fein ausgearbeiteten Ente um eine bestimmte handelte. Diese Tiere sehen sich schon sehr ähnlich, sind lange nicht so unterschiedlich wie jene Verwandten, die in Entenhausen eine von Fortpflanzung und Alterung freie Existenz führen.

Das war übrigens mein erster Verdacht, daß Simon diese Ente nur darum gezeichnet hatte, um damit auf das Vorbild des von ihm so geliebten Donald Duck zu verweisen.

Andererseits …

Ich tippte auf den Rand der Zeichnung und fragte ihn:»Ist das etwa Einauge?«

Er hätte nicken oder den Kopf schütteln können. Tat er aber nicht, sondern setzte letzte kleine Punkte in das glänzende Auge des Erpels.

Ich überlegte, daß, obgleich man auf diesem Blatt Papier nur die linke Flanke und die linke Gesichtshälfte des Tiers erkennen konnte, dennoch auch die andere Seite existierte. So ist das nämlich immer bei der Kunst. Wenn wir von Goyas nackter Maja nur die Vorderseite sehen — ihre Scham, ihren Nabel, ihre Brüste, ihr Gesicht — , so bedeutet das nicht, sie würde keinen Rücken haben. Eine Maja ohne Rücken, das wäre ja völliger Unsinn, oder?

Und so war — ungesehen, aber doch — natürlich auch eine rechte Seite dieser Ente vorhanden. Und damit auch ein rechtes Auge. Eines, das entweder geschlossen oder offen war. Was ich niemals erfahren würde.

So wie es Schrödingers Katze gab, gab es eben auch Simons Ente.

Es war vereinbart worden, daß wir in St. Jodok den Zug verließen. Dort würde Mercedes auf uns warten und uns zu seinem Haus chauffieren.

«Was denkst du«, fragte Kerstin,»was unser Herr Mercedes für einen Wagen fährt?«

Ich lachte. Das war eine wahrlich nette Vorstellung, der Messerwerfer würde jenen besternten Wagen gleichen Namens fahren. Ein Mercedes in einem Mercedes.

Es war dann aber ein japanisches Auto, mit dem unser Gastgeber uns abholte. Er begrüßte Kerstin und Simon mit einer Umarmung, mir reichte er die Hand. Ich wunderte mich ein wenig über die Intimität zwischen ihm und Kerstin. Mir war nicht aufgefallen, daß sie oben am Astri-Berg viel miteinander geredet hätten. Na gut, der Mann war sechsundsiebzig, da durfte er auch Frauen umarmen, mit denen er noch nicht soviel geplaudert hatte.

Das Wetter war traumhaft wie damals, als wir das letzte Mal hier gewesen waren. Aber das Licht hatte sich ein klein wenig verändert. Man konnte ruhig sagen: Es war älter geworden. Nicht schwächer, aber milder, was ein Unterschied ist, schwächer wird man gegen seinen Willen, milder wird man absichtlich. Ein absichtsvoll mildes Licht.

Es gibt wenige sechs Kilometer auf der Welt, die so ruhig und sanft anmuten wie dieses Valsertal, ohne darum gleich Teil einer Wüste oder eines Ozeans zu sein. Ungefähr in der Mitte dieser Landschaft bogen wir rechts von der Hauptstraße ab und gelangten auf einer schmalen Zufahrt zu einem ehemaligen Gehöft, welches vor dem Hintergrund des aufsteigenden Waldes wie eine rechteckige Faust in der Erde steckte. Nein, es waren zwei Fäuste, weil ja der angrenzende Stall ebenso wuchtig und fast gleich groß wie das Hauptgebäude war. Eine dunkle Faust, der Stall, während das Wohnhaus einen hellen Anstrich besaß, mit kleinen, grün gerahmten Fenstern und über der Eingangstür eine Nische, in der eine bemalte Statuette stand.

«Die heilige Anna«, erklärte Mercedes, während er mir meine Tasche reichte. Offensichtlich hatte er meinen fragenden Blick bemerkt. Und ergänzte:»Jesus’ Oma.«

Das klang irgendwie despektierlich und entsprach dennoch vollkommen den Tatsachen. Wahrscheinlich war es der Begriff» Oma«, der mich irritierte, als wäre Jesus auch nur ein Lausbub mit einer stinknormalen Sippe gewesen.

Schon von hier draußen vernahm man die Musik, die drinnen gespielt wurde. Den Klang des Klaviers. Bach. Natürlich Bach. Ich hatte mich diesmal ein wenig vorbereitet. Im Unterschied zu unserem ersten Besuch in dieser Gegend, als mir Kerstin so viel hatte erklären müssen. Diesmal nicht. Ich wußte, wer da spielte, ich erkannte sogar, daß es sich weder um das Wohltemperierte Klavier noch um die Goldbergvariationen handelte, sondern um etwas anderes, anders, aber von Bach. Was ich freilich so nicht sagen konnte.

«Die Allemande aus der Partita Nr. 1«, erklärte Mercedes,»Carla spielt diese Partita seit Wochen, nur das, rauf und runter. Daran muß man sich gewöhnen. Immerhin, sie spielt die sechs Stücke schöner als jeder andere. Außer Gould damals vielleicht.«