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Kerstin zog ihre Stirn in leichte Falten. Klassische Musik war nicht ihr Thema. Für mich selbst war diese Musik eine typische Allesforschermusik. Bei ihm, über den Dächern von Köln, hatte ich derartiges gehört, eben nicht nur die drei Sonnen Schuberts, sondern auch Bach, Beethoven, selbst Schönberg und Webern. Nach dem Tod des Allesforschers war für mich auch diese Musik gestorben.

Die tote Musik drang nun aber durchaus lebendig an mein Ohr, als wir ins Haus traten, dessen Räume überraschend modern gestaltet waren. Man vergaß, daß man sich im tiefsten Tirol befand, und zwar in einem Haus, dessen Hülle in vollkommener Übereinstimmung mit der Tradition der Gegend stand.

Modern, aber nicht kalt. Großzügig in dem Sinn, daß die einzelnen Objekte und Möbel sehr viel Platz besaßen. Es war wie mit den Planeten, die ja auch zu einem System gehören, aber einiges an Leere zwischen sich haben. Damit jedoch überhaupt erst ein Bewußtsein für diese Leere schaffen — indem sie die Leere tragen.

Wir stellten unsere Sachen ab und folgten Mercedes in einen Raum mit weißem Kunststoffboden und einer Decke aus dunklem Stein. Darin stand einzig ein schwarzer Flügel, vor dessen Klaviatur die dünne Gestalt der Clara Foresta aufragte. Nein, dünn war das falsche Wort, aber auch ausgehungert wäre das falsche gewesen. Sie hatte etwas von einer Liane. Einer geschminkten Liane. Sehr vornehm und eigentlich sehr natürlich, als wäre das Rot der Lippen und das Türkis auf ihren Lidern und das Altrosa auf ihren Wangenknochen immer schon dagewesen und diese Person ohne ein Make-up vollkommen undenkbar. (In der Tat verstecken sich solche Frauen, sobald sie ungeschminkt sind, sie verbergen aber nicht ihr wahres Gesicht, sondern ganz im Gegenteil eine Fratze, die vom Teufel stammt und dem Wesen dieser Frauen in keiner Weise entspricht — manches Make-up ist schlichte Teufelsaustreibung.)

Ich stellte mich so, daß ich sehen konnte, wie Clara Foresta mit ihren langen, dünnen Fingern über die Tasten glitt, wobei sie sehr gerade und aufrecht saß und ihr Körper so unbewegt schien wie ihr Gesichtsausdruck. Nur die Hände waren in Bewegung. Man hatte ihr darum den Beinamen» die Puppe «verliehen, wegen dieser starren und unbewegten Haltung. Ein Kritiker hatte geschrieben, wenn Foresta eine Puppe wäre, dann wäre er sofort bereit, auch eine zu werden, um nämlich Bach so spielen zu können, so frei vom Ballast der Musikerziehung, vor allem der Gefühlsaufwallung, mit der andere Pianisten vor dem Klavier sitzend sterben oder sich in lackierte Monster verwandeln würden. Er schloß:»Die Puppe lebt.«

Ja, und nun war sie eine alte Puppe, die noch immer lebte, wobei ihr Anschlag mit einer Leichtigkeit erfolgte, als würden im einzig richtigen Moment in ihren Fingerkuppen Bleigewichte entstehen und gleich wieder verschwinden, kommen und gehen, kommen und gehen …

«Du bist ja ganz verzaubert«, flüsterte mir Kerstin zu.

Stimmt.

Als dieses verzaubernde Spiel beendet war, erhob sich Clara Foresta und tat einen Schritt vom Klavier weg. Ihr Mann stellte uns vor. Ich nahm ihre alte, stark geäderte Hand und … ich konnte es einfach nicht unterlassen, ihr die Hand zu küssen. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich das bisher ein einziges Mal in meinem Leben getan. Damals bei Lana, als ich sie zum Abendessen in die Krankenhausküche eingeladen und sie genau auf diese ältliche Weise hatte überraschen wollen. So affektiert der Handkuß in der Regel auch anmutet, man kann damit etwas ausdrücken, was sich eben weder mit einer Verbeugung noch mit einem profanen Schütteln der Hand, einem Wangenkuß oder einer Umarmung ausdrücken läßt: Der Handkuß bedeutet eine lustvolle Unterwerfung. Vergleichbar nur noch dem Kniefall, den ein geschlagener Feldherr unternimmt und mit dem er im Moment der Niederlage sich selbst adelt.

Ja, indem ich die Hand dieser Frau küßte, unterwarf ich mich, und zugleich adelte ich mich.

Kerstin schüttelte den Kopf.

Mercedes zeigte uns unser Zimmer, wo wir uns umzogen, Kerstin und ich, während Simon bei Clara blieb, die ihm eine kalte Limonade servierte.

Als Kerstin und ich wenig später aus dem Haus traten und uns zu unseren Gastgebern an einen im Schatten liegenden Holztisch setzten, fragte ich besorgt, wo denn Simon sei.

Es war Kerstin, die mir erklärte:»Er ist wirklich kein Baby mehr.«

Eigentlich wollte ich sie an die Geschichte mit dem Vogel Strauß erinnern, auch wenn die Geschichte ja gut ausgegangen war. Doch bevor ich etwas sagen konnte, meinte Frau Foresta, ich bräuchte mir keine Sorgen zu machen, mein Sohn habe bereits eine Spielkameradin gefunden, die Tochter der Familie von gegenüber. Dabei zeigte sie Richtung Talboden, dorthin, wo die Busstation lag. Ich erkannte, ganz klein, zwei Gestalten, die direkt an der Straße saßen.

Ich hätte jetzt etwas von wegen der Gefahren des Verkehrs sagen können, aber es war weit und breit kein Auto zu sehen.

Mercedes öffnete eine Flasche Weißwein und schenkte in vier Gläser ein. Wir stießen an und tranken. Das Gespräch, das folgte, war zuerst dem Haus gewidmet, dem aufwendigen Umbau der Gebäude, der Schönheit der Gegend und den idealen Bedingungen, um Klavier zu spielen. Die Ruhe, die man hier habe, nicht zuletzt die Möglichkeit, auch während der Nacht zu üben, ohne in anstrengende Diskussionen mit einer Hausgemeinschaft zu geraten.

Kerstin blickte zu mir herüber, als wollte sie sagen:»Na gute Nacht!«

Einmal fragte ich:»Was machen die beiden Kinder eigentlich?«

«Vielleicht unterhalten sie sich«, meinte Clara Foresta.

Es war ihr Mann, der ihr erklärte, daß Simon nicht der Junge sei, der sich unterhalte. Worauf sie sich verwundert zeigte. Sie meinte, sie habe nichts bemerkt. Sagte dann aber, an mich gerichtet:»Sie verzeihen, ich bin manchmal etwas verwirrt und höre Leute reden, die schweigen, und umgekehrt. «Dabei zündete sie sich eine nächste Zigarette an. Sie rauchte die ganze Zeit, nur während des Klavierspiels nicht. Mir fiel auf, wie sehr ihre Hände zitterten. Was ich erstaunlich fand angesichts dessen, wie die gleichen Finger punktgenau die Tasten des Klaviers getroffen hatten. Ich hätte sie gerne gefragt, wie sie das machte. Später vielleicht.

«Ich schau mal zu den Kindern, wenn’s recht ist«, sagte ich.

«Ja, gehen Sie nur«, meinte Mercedes,»ich zeige Frau Heinsberg unseren Garten. Unsere Rosen. Wir haben hier viele Spätblüher, noch dazu bei dem Wetter. — Mögen Sie Rosen, Frau Heinsberg?«

«Ich rieche gerne an ihnen.«

«Das ist die richtige Antwort«, sagte der Messerwerfer.

Es versteht sich, daß ich Kerstin noch nie an einer Rose hatte riechen sehen. Kam ein Rosenverkäufer, schüttelte sie widerwillig den Kopf. Klar, es gab solche und solche Rosen. Auch fragte ich mich, ob sie etwa ein Faible für ältere Männer besaß. Ältere als mich, den mit sechsunddreißig Jahren Fünfzigjährigen.

Wie auch immer, ich begab mich hinüber zur Straße, an dessen Rand Simon zusammen mit einem Mädchen hockte, jünger und kleiner als er und genauso dünn. Sie trug ein weißes Kleid, das sie anscheinend selbst bemalt hatte. Die beiden saßen nebeneinander auf einer Matte, zwischen sich einen Schirm, der sie vor der Sonne schützte. Vor ihnen auf dem Boden waren mehrere kleine Spielsachen ausgebreitet. Neben jedem Objekt lag ein kleiner Zettel, und darauf stand der Preis der Ware. Zudem hatten sie mehrere Trinkbecher aufgestellt und ein Gefäß mit Wasser sowie einen Karton Orangensaft. Der Orangensaft war mit 1 Euro ausgewiesen, während auf der Wasserkaraffe ein Zettel mit einer 2,— klebte.

Ich schaute mich um und dachte mir:»Mein Gott, es kann Ewigkeiten dauern, bis hier der nächste Kunde vorbeikommt.«

Was ich nicht gleich begriff, war, daß ich ja selbst der» nächste Kunde «war. Und tatsächlich sahen mich Simon und seine kleine Freundin erwartungsvoll an. Das Mädchen ließ ihren Arm über die ausgestellte Ware gleiten und empfahl mir:»Schauen Sie sich nur um, mein Herr.«