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«Wie heißt du?«fragte ich sie.

«Sonja.«

«Hallo, Sonja«, sagte ich und erklärte ihr, wer ich war, nämlich der Vater des Jungen, neben dem sie saß. Und sagte ihr auch, daß er Simon heiße.

Sie aber meinte nur:»Auch wenn Sie sein Vater sind, können Sie doch trotzdem bei uns einkaufen. Oder?«

«Natürlich, Sonja, ich wollte nur …«

Ja, was? Ihr erklären, wieso Simon nicht redete. Oder nicht so, daß man ihn verstand. Für Sonja schien das aber nicht wirklich ein Problem zu sein. Sie war in erster Linie an ihrem Geschäft interessiert. Und wohl froh, dabei nicht allein in der Hitze hocken zu müssen. (Wobei es Unsinn war zu glauben, sie hätte sich mit jedem anderen Jungen ebenfalls hierher gesetzt, nur um nicht allein zu sein, so was taten Frauen erst, wenn sie älter waren, einen Irgendjemand dem Alleinsein vorzuziehen.)

Ich strich mir über die Stirn und sagte:»Also, vor allem habe ich Durst.«

«Wasser, Orangensaft pur oder Orangensaft gespritzt?«

Eigentlich hätte ich die Kleine darauf aufmerksam machen müssen, daß von» gespritzt «nur bei Mineralwasser die Rede sein konnte, nicht aber bei Leitungswasser, das war wohl eher» gemischt «zu nennen. Es war dann jedoch der merkwürdige Preisunterschied zwischen dem teuren Wasser und dem billigen Orangensaft, auf den ich sie ansprach.

Sie fragte mich, ob ich denn nicht gehört hätte, daß sauberes Wasser immer wertvoller werde und man es als das Gold der Zukunft bezeichne, welches bald wichtiger sein werde als Benzin. Von Orangensaft würde niemand so etwas behaupten.

«Aber im Orangensaft ist auch Wasser«, sagte ich.

«Aber nicht soviel wie im Wasser«, antwortete sie.

Ich hatte keine Chance und bestellte einen Orangensaft gespritzt. Für den Sonja mir drei Euro berechnete. Ich trank den Becher halb aus und sah mir nun die präsentierte Ware an. Alte Plastiktiere, die Glieder einer Puppe, mehrere Puzzles, einige Comics. Auch erkannte ich Sachen von Simon. Er hatte tatsächlich sein Donald-Duck-Büchlein beigetragen, zudem stammten mehrere Steine von ihm, die er immer in seiner Hosentasche trug, und er hatte seine wunderbare Entenzeichnung ausgestellt.

Ich verhielt mich wie diese Leute, die meinen, am Flohmarkt ein besonders wertvolles Stück entdeckt zu haben, aber bemüht sind, sich nichts anmerken zu lassen. Ich griff nach einer zerschürften Kunststoffkuh für 2,50 Euro und faßte wie beiläufig auch nach der Zeichnung, die aber ohne ein Preisschild war. Sodann schaute ich fragend zwischen den Kindern hin und her. Wieviel?

Das Mädchen beugte sich zu Simon und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann hob sie wieder den Kopf und lächelte Simon an. Er nickte.

«Okay«, sagte Sonja und wandte sich mir zu,»fünfzig Euro.«

Das war nun eine ganz merkwürdige Situation, weil die Forderung von fünfzig Euro für eine Plastikkuh und eine Kinderzeichnung natürlich viel zu hoch war, auch wenn der Käufer sich gegen die jungen Verkäufer großzügig zeigen mochte. Andererseits war diese» Ente «ein Meisterwerk, das hätte auch jeder andere Erwachsene erkannt. Diese Graphik mutete an wie das Frühwerk von jemandem, der später mal der Picasso seiner Zeit sein würde. Fünfzig Euro waren, so betrachtet, ein Witz. Nicht mehr dafür zu bezahlen wäre eigentlich ein Betrug gewesen. Doch mehr zu geben hätte die Kinder wiederum verwirrt. Man gab nicht mehr als verlangt. Mehr wäre ein Ausdruck dafür gewesen, die Geschäftsfähigkeit dieser Kinder zu bezweifeln.

Ich griff nach meiner Geldbörse und zog drei Zehner und einen Zwanziger hervor und hielt sie zwischen die beiden Gewerbetreibenden. Es war Simon, der die Scheine nahm. Er steckte sie alle in seine Hosentasche. Ohne daß dies Sonja störte. Keine Ahnung, wie sie am Ende abrechneten. Sosehr es mich interessierte, hielt ich meinen Mund.

«Drei Euro fehlen noch«, erinnerte Sonja.»Der Saft.«

Richtig, der mit Wasser und dann noch einmal mit Wasser verdünnte Orangensaft. Ich reichte Simon die drei Münzen. Es war jetzt aber Sonja, die ihre Hand aufhielt. Sie für das Harte, er fürs Papier.

Soeben kam der Postautobus. Vier Leute stiegen aus. Einen erkannte ich: den Mann mit der Flinte, den wir bei unserer ersten Reise gesehen hatten, als sich Kerstin gefragt hatte, ob er für sein Gewehr eine Fahrkarte benötige.

Alle vier Personen blieben vor Simons und Sonjas ebenerdigem Laden stehen. Jeder wählte ein Getränk aus. Ich ging zurück zum Haus, mit Ente und Kuh, nicht zuletzt im Bewußtsein, daß Simon dort, wo er jetzt war, nichts geschehen konnte, niemand ihn in sein Auto zerren oder sonst etwas Schlimmes tun würde. Ich wußte es einfach. Und war ganz ruhig, als ich mich zu der einst berühmten Pianistin setzte, während der Messerwerfer Mercedes noch immer mit Kerstin zwischen den Rosen stand und ihr die Namen der Blumen nannte. Sie hörte ihm zu. Ich sah es aus der Ferne, wie friedvoll sie war, indem sie einfach zuhörte und hin und wieder ihre Nase über eine Blüte hielt.

Nach dem Abendessen, das Mercedes zubereitet hatte — Clara sagte, daß sie nicht nur wenig esse, sondern auch wenig koche — , setzten sich die beiden Frauen mit Simon in die Bibliothek, wo zur Freude Simons auch ein Stapel mit Comicheften sehr ordentlich ein Regal füllte.

Ich trat mit Mercedes vor das Haus. Wir hatten beide ein Glas Wein in der Hand. Der kühle Wind zerteilte die Reste eines warmen Tages in der Weise, wie eine leichte Ohrfeige rechts und links verabreicht wird. Solcherart wurde man daran erinnert, daß der Sommer vorbei war. — So ein Sommerende hat schon todesartige Züge. Der Herbst — gleich, wie golden er ist — ruft einem unweigerlich ins Gedächtnis, daß der Sinn des Lebens darin besteht, zu Ende zu gehen.

«Sie hätten mir von Ihrer Schwester erzählen müssen«, eröffnete Mercedes das Gespräch, das seine Einladung begründet hatte.

«Wieso denn? Sie haben mir von Ihrer Schwester auch nicht erzählt«, sagte ich. Nicht, daß ich wußte, ob er eine hatte oder nicht.

Mercedes antwortete:»Ist meine Schwester denn in Ihren Träumen?«

«Nein, das nicht.«

«Eben. Ihre aber in meinen.«

«Wie hätte ich ahnen können, daß sie bei Ihnen auftauchen wird?«

«Hat sie denn nichts gesagt?«

«Kein Wort«, beteuerte ich und stellte fest:»Sie will also Messerwerferin werden. Statt des Kletterns, das ihr alles bedeutet hat, als sie noch lebte.«

«Ich glaube nicht«, meinte Mercedes,»daß es ein Ersatz fürs Bergsteigen sein soll. Es kommt mir nicht so vor, als wollte sie sich bloß ein neues Hobby aneignen.«

«Im Ernst, lieber Herr Mercedes«, sagte ich,»worüber reden wir hier? Ich meine, was auch immer Astri tut oder nicht, sie ist tot. Und wird ganz sicher nicht auferstehen, um irgend jemanden mit einem Messer niederzustrecken. Was fürchten Sie? Daß man Ihnen die Unterstützung einer kriminellen Tat vorwerfen kann?«

«Ihre Schwester mag tot sein. In meinen Träumen kommt sie mir aber sehr lebendig vor. Lebendig und fordernd. Sie kommt Nacht für Nacht. Wissen Sie, wie anstrengend das ist? Tatsächlich so, als würde man doppelt leben und nicht wirklich zum Schlafen kommen. Wer nicht schläft, wird verrückt. — Nein, ich will, daß Ihre Schwester verschwindet. Reden Sie mit ihr!«

Ich erklärte ihm, daß ich derzeit keinen Kontakt hätte, mich zumindest an meine Träume nicht erinnern könne.

«Können Sie nicht, oder wollen Sie nicht?«fragte Mercedes.

Es wirkte so verzweifelt wie verärgert. Obgleich ihm Astri ja nicht in Form eines Alptraums erschien, sondern als Schülerin. Aber eben als eine, die er sich nicht ausgesucht hatte. So, wie er sich nie sein Publikum hatte aussuchen können.

Ich erkannte die Müdigkeit in seinem Gesicht, die tiefen Einschnitte, als seien zu den Tagesfalten die Nachtfalten hinzugekommen und dadurch die Furchen in seinem Gesicht doppelt so tief.