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«Was mich zusätzlich irritiert«, meinte der Zerfurchte,»ist Ihre Behauptung von neulich, Herr Braun, ich hätte Sie in einem Ihrer Träume gerettet. Nicht wahr, das haben Sie doch gesagt? Davon weiß ich aber nichts.«

«Ich schon«, sagte ich,»Sie haben zwei Typen die Kehle aufgeschlitzt.«

«Reizend«, tönte Mercedes.

«Es war der einzige Weg«, versicherte ich ihm.»Sie haben das Richtige getan. Die zwei hatten Gewehre, und sie wollten Kerstin mitnehmen. Ich glaube nicht, daß man mit denen hätte diskutieren können. — Sie haben mir in diesem Traum übrigens prophezeit, ich würde Geburtshelfer werden.«

«Wieso das denn?«

«Ja, das wollte ich auch von Ihnen wissen.«

«Es ist nicht meine Art, Antworten schuldig zu bleiben«, erklärte Mercedes.»Jetzt abgesehen davon, daß es nicht meine Art ist, Kehlen aufzuschlitzen, von wem auch immer.«

«Wie gesagt, es war eine gute Tat.«

Wir schauten uns unsicher an. Dann tranken wir.

«Gehen wir schlafen«, schlug Mercedes vor,»vielleicht sind wir nachher gescheiter.«

Das war wohl der Grund dafür, daß er mich hierher eingeladen hatte. Er hoffte, daß meine Nähe etwas bewirkte. Denn wenn am Astri-Berg er in meinem Traum gewesen war, war es vielleicht möglich, daß ich nun in seinen geriet und dort mit Astri ein ernstes Wort sprechen konnte.

29

Es war wohl diese hohe Erwartungshaltung, die es mit sich brachte, nicht einschlafen zu können. Ich drehte und wendete mich, als wollte ich an sämtlichen Stellen gleich knusprig werden. Und überall waren Geräusche: der ruhige Atem Kerstins neben mir, das entferntere Schnaufen Simons, der hier sein eigenes Bett hatte, der Wind, der die Büsche und Bäume zum Sprechen brachte. Vor allem aber vernahm ich die Stimme des Klaviers, diesen von einer vornehmen alten Dame angetriebenen schwarzen Flügel. Wobei ich mich schon sehr konzentrieren mußte, um zwischen den anderen Lauten auch die Musik zu hören. Vor allem das zweite und sechste Stück aus der Partita gefielen mir so gut, daß ich darauf wartete, bis sie innerhalb der Schleife erneut erklangen.

Eine Schlafschleife war es nicht.

Endlich stand ich auf, zog mich an und ging nach unten. Leise, und zwar nicht nur, um die anderen nicht zu wecken. Ich schlich mich an das Klavierzimmer heran, dessen Tür glücklicherweise angelehnt war, so daß ich lautlos den Spalt etwas vergrößern konnte und auf den großen glänzenden Klangkörper und die Pianistin sah.

Nicht, daß ich über das geübte Gehör verfügte, welches nötig gewesen wäre, um die Qualität und Außerordentlichkeit von Forestas Spiel zu beurteilen. Ich denke, ich wollte es ganz einfach, ich wollte die Außerordentlichkeit. Wie man eben will, daß jemand ein Genie ist.

Erst als ich Jahre später einen Film über Glenn Gould sah, wurde mir die eigentliche Parallele bewußt. In dieser Dokumentation erzählt ein Cellist, daß er, als er das erste Mal den jungen Gould hörte, sich fragte:»Wer ist das, der so eloquent mit der Rechten als auch der Linken spielen kann, daß man fast meint, hier würde jemand ein Duett mit sich selbst spielen?«Genau das war es, was ich soeben erlebte, ohne daß ich es auf diese Weise hätte ausdrücken können: ein Duett mit sich selbst. Eine so autistische wie virtuose und, körperlich gesehen, völlig unmögliche Darbietung. Denn niemand war zwei, wenn er allein war (außer natürlich man begriff das Klavier als den anderen Menschen).

Die zweite Unmöglichkeit jedoch war mir schon am Nachmittag bewußt geworden, wie sehr nämlich Clara Forestas Hände zitterten, wenn sie rauchte oder eine Gabel hielt oder ein Glas, und wie wenig, wenn sich die Tasten unter dem Gewicht ihrer Finger senkten. Was aber, wenn ich mich täuschte, und sie zitterte auch dann, wenn sie spielte? Nur, daß es nicht auffiel und auch nicht zu hören war. Ein Zittern, das dieses Spiel vielleicht sogar begünstigte. Weniger ein Zittern als ein Federn. War das möglich? Jedenfalls hätte ich jetzt gerne einen genaueren Blick auf die Hände Forestas geworfen. Blieb jedoch vor dem Türspalt stehen, wagte es nicht einzutreten. Mir war, als beobachtete ich heimlich eine nackte Frau.

In dieser Position schlief ich allen Ernstes ein, gegen den Türrahmen gelehnt: ein Wyoming-Pferd. Als ich erwachte, war es still, und das wenige Licht stammte allein von der beginnenden Dämmerung. Ich stand nicht mehr, sondern war an derselben Stelle zusammengesunken. Ich fühlte mich ein wenig erschossen. Überlegte aber sogleich, wovon ich geträumt hatte. Doch die Erinnerung war verschwommen, da waren bloß noch Fetzen im Kopf. Fetzen, auf denen sich weder das Antlitz Kerstins noch das von Mercedes abzeichnete, sondern …

Nun, es war ein Mann in einem Taucheranzug in meinem Traum gewesen, eine kleine, stämmige Person, deren Gesicht hinter einer Taucherbrille verborgen gewesen war. Im klassisch-surrealen Stil eines Traums war er aus einem mit Wasser gefüllten Schrank gestiegen, wobei das Wasser folgerichtig eine stabile senkrechte Wand gebildet hatte, ein im wahrsten Sinne stehendes Gewässer.

«Ostchinesisches Meer!«dachte ich jetzt und erinnerte mich an jenen Menschen, den ich so vollkommen aus meinem Gedächtnis verbannt hatte. Keinen hatte ich mehr verdrängt als ihn. Ihn, dem ich höchstwahrscheinlich inmitten eines abgestürzten und versinkenden Flugzeugs seine Schwimmweste heruntergerissen hatte und der mich mit einer Klage bedroht hatte, um sich schlußendlich im Zuge glücklich-unglücklicher Umstände den Schädel einzuschlagen, ohne daß ich etwas dafür konnte. Dafür nicht. Allerdings hatte ich seinen Leichnam sicherheitshalber der See übergeben, was ihn zwar nicht toter machte, als er schon gewesen war, aber den Hintergrund seines Ablebens doch sehr veränderte.

In dem Moment, da ich ihn von der Boje ins Wasser beförderte und die Wellen ihn davontrugen, hatten auch die Wellen in meinem Hirn diesen Mann entfernt. Und nun also war er in beiderlei Bedeutung des Wortes aufgetaucht, aus einem mit Wasser gefüllten Kleiderschrank.

Wenn er es denn wirklich gewesen war. Ich konnte mich ja nicht einmal an seinen Namen erinnern. Hatte ich seinen Namen überhaupt je erfahren? Seinen richtigen Namen? Mir fiel jetzt ein, ihn seiner Erbschaft wegen den Zehn-Millionen-Mann getauft zu haben.

Die Frage war nun, ob das Auftreten des ehemaligen Militärtauchers, der nicht mehr dazu gekommen war, seine Millionen auszugeben, irgendeine Bedeutung besaß oder bloß einer Laune der Natur meiner Traumwelt zu verdanken war, gleich dem zufälligen Aufblättern einer vom Wind bewegten Buchseite.

«Eine Laune der Natur«, bestimmte ich, weil mir eine noch so unangenehme Laune lieber war als ein guter Grund. In diesem Fall wäre ein guter Grund nämlich zugleich ein schlechter gewesen.

Ich erhob mich und ging nach oben. Kerstin und Simon schliefen noch. Ich trat auf den Balkon und sah der Landschaft zu, wie sie stückweise — als drehte ein Spieler nach und nach seine Karten um — aus der Dunkelheit auftauchte. Es würde erneut ein herrlicher Spätsommertag werden.

Wir frühstückten im Freien, an dem großen hölzernen Tisch. Clara aber fehlte.

«Kommt Ihre Frau später?«fragte ich Mercedes.

«Sie hat bis in der Früh geübt.«

Erst jetzt kam mir die Vorstellung, wie Clara beim Verlassen des Klavierzimmers über mich gestolpert sein mußte. Wobei der Raum allerdings auch eine zweite Tür besaß. Ich konnte nur hoffen, daß sie durch diese gegangen war.

Mercedes sagte, daß seine Frau nie viel schlafe, und fügte an:»Sie ist wohl zeitig am Morgen losmarschiert. Das kommt hin und wieder vor, daß sie zu einer Wanderung aufbricht, ohne mir etwas zu sagen. In der Regel läuft sie hoch zur Hütte.«