«Herrje!«meinte ich.»Das ist ein langer Weg von hier.«
«Sie fährt mit dem ersten Bus bis ans Ende des Tals und marschiert dann hoch.«
Nun, das war genau die Strecke, die wir beim letzten Mal gegangen waren. Ich sagte:»Das ist immer noch ein langes Stück.«
«Clara ist zäh«, meinte Mercedes.»Lassen Sie sich von ihrer Kettenraucherei und den zittrigen Händen nicht täuschen. Ihre Ausdauer ist beachtlich. Nicht bloß, wenn sie Bach spielt.«
In der Folge unterhielt sich Mercedes nur noch mit Kerstin. Sie redeten viel über Malerei. Offensichtlich hatte sie keine Scheu gehabt, ihm von ihrer Leidenschaft und verhinderten Profession zu berichten. Mercedes erwies sich als Kenner englischer Nachkriegsmalerei: Lucian Freud, Francis Bacon, Ben Nicholson, Graham Sutherland, solche Sachen. Er redete darüber, als hätte er da überall mitgemalt.
Simon wiederum hatte sich in großer Eile mehrere Brote mit Schokoladecreme in den Mund geschoben und hatte auf mein» Du sollst nicht so stopfen!«mit einem» Quadrant!«geantwortet, womit aber kaum der Abschnitt einer Ebene gemeint sein konnte. Jedenfalls behielt er sein Eßtempo bei und war dann auch schnell verschwunden.
«Keine Sorge«, sagte Kerstin, die günstiger saß als ich.»Er ist zu seiner kleinen Freundin gegangen.«
«Ich sorge mich nicht«, sagte ich.»Ich will nur an seinen Tischmanieren etwas ändern.«
«In dem Alter ißt man halt so«, sagte sie,»weil das Essen einen nur abhält von den wichtigen Dingen. Das Essen ist ein Zeitfresser, wenn man neun Jahre alt ist.«
Nun, es muß gesagt werden, daß auch Kerstin beim Essen eher zum Schlingen neigte. Was mir gar nicht gefiel. Die Art, wie sie aß, machte sie in diesen Momenten häßlich. Nicht, daß sie schmatzte oder rülpste, so schlimm war es nicht. Aber man konnte den Eindruck bekommen, sie würde über das Verdauungssystem einer Schlange verfügen und wäre also in der Lage, ganze Krokodile hinunterzuschlucken. Wenn ich dagegen daran dachte, wie Lana gegessen hatte … wunderbar! Nicht etwa in der spatzenhaft pickenden Manier der Magersüchtigen oder Möchtegernmagersüchtigen, denn sie war ja weder das eine noch das andere gewesen, sondern so, daß jeder Bissen wie ein kleines Geschenk in ihren Mund wanderte. Und wenn sie kaute, dann in der Art, wie sie redete. Es war in beidem eine Überlegenheit gewesen.
Ich idealisierte sie, keine Frage.
Und hoffte inständig, daß Lana niemals in meinen Träumen erscheinen würde. Sie war in meiner Erinnerung so viel besser aufgehoben.
Nach dem Frühstück legte sich Kerstin mit einem Buch zwischen die langblühenden Rosen, so daß ich mit Mercedes allein war und ihn fragen konnte, was letzte Nacht geschehen war, ob ich in einem seiner Träume erschienen war.
«Ich habe Sie gesehen, das stimmt«, sagte Mercedes,»aber nur kurz und aus der Ferne. Sie waren wirklich weit weg. Ich glaube, Sie sind vor einem Kleiderschrank oder so gestanden. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Ein Symbol natürlich. Aber ein Symbol wofür? — Danach kam jedenfalls Ihre Schwester und hat wie üblich von mir verlangt, daß ich mit ihr trainiere. Sie wird immer besser, sie ist richtig gut. Kaltes Blut, präziser Wurf. Aber noch wichtiger ist, sie besitzt Intuition. Sie spürt, ob sich das Ziel bewegen wird oder nicht — und wenn, wohin. Sagen wir so: Ich möchte nicht ihr Feind sein.«
«Nun, Sie sind ihr Lehrer.«
«Das schließt kaum eine Feindschaft aus, oder?«
Das stimmte.
«Und Sie?«fragte mich Mercedes.»Was war in Ihren Träumen los?«
«Keine Ahnung«, sagte ich.»Es gibt nichts, woran ich mich erinnern könnte.«
Ich verlor kein Wort über den Schrank und den Taucher und wie sehr dies eine Vermischung unserer beider Träume nahelegte. Ich wollte abwarten. Wollte sehen, ob sich der Schranktraum wiederholte und ich mir sicher sein konnte, es wirklich mit dem Zehn-Millionen-Mann zu tun zu haben. Schwer genug, Mercedes zu erklären, was damals im Ostchinesischen Meer geschehen war. In dieser alten Geschichte lagen die Schuld und die Unschuld so nahe beieinander, daß man leicht das eine für das andere halten konnte.
Es wurde ein ruhiger Tag. Kerstin mit ihrem Buch zwischen den Rosen. Simon mit dem Mädchen namens Sonja erneut am Straßenrand auf Kunden wartend. Kunden, die an diesem Ort zwar selten kamen, aber wenn sie kamen, auch kauften. Ich selbst wiederum half Mercedes bei der Ausbesserung einer Scheunenwand. Doch so ruhig der Tag verging, er blieb es nicht. Denn als gegen Abend Clara Foresta nicht zurück war, wurde Mercedes nervös.
«Sie geht immer ohne Handy«, sagte er,»abgesehen davon, daß in dieser Gegend die Handys auch im Sommer gerne Winterschlaf halten.«
Ich meinte, er solle in der Hütte anrufen. Oder eine Mail senden.
Aber Mercedes scheute sich. Er sagte:»Clara mag nicht, wenn ich sie kontrolliere.«
«Sie machen sich Sorgen. Das muß man verstehen«, erklärte ich, der ich ja selbst durchaus bewandert war im Sorgenmachen.
Aber Sorgen gingen halt oft in Kontrolle über. Das war wie mit der Schuld und Unschuld. Jedenfalls wartete Mercedes. Erst als es dunkel wurde, nahm er Kontakt zur Hütte auf. — Clara war gut dort angekommen, aber noch um die Mittagszeit wieder aufgebrochen, nicht jedoch, um ins Tal zurückzukehren, sondern um das fünf Stunden entfernte Tuxer Joch und das dortige Schutzhaus zu erreichen.
Sosehr Mercedes die Fitneß seiner Frau betont hatte, war ihm das nun doch zuviel. Er schimpfte in das Telefon hinein. Von wo allerdings die Antwort kam, daß man auch Personen, die auf die Achtzig zugingen, nicht verbieten konnte, auf markierten Wanderwegen zu marschieren. Rauchend, zitternd, egal! Die Berge waren frei, und es gab dort wahrlich verrücktere Leute als die rüstige und bestens ausgerüstete Clara Foresta.
Mercedes versuchte nun, jene andere Hütte am Tuxer Joch zu erreichen. Telefonisch aber war dies zur Zeit nicht möglich, und wohin auch immer seine Mail hinreiste, nicht den Berg hoch. Zudem war Mercedes kein Amateurfunker (Leute, die zur Not auch zu Mond und Mars eine Verbindung herzustellen verstanden).
«Hören Sie, Herr Mercedes«, sagte ich und legte dem Mann eine Hand auf die Schulter,»Ihrer Frau geht es gut.«
Er betrachtete meine Hand wie einen an den Rändern schwarz gewordenen Pfannkuchen und fragte:»Woher wollen Sie das wissen?«
Ja, woher?
Anstatt zu antworten, machte ich ein gleichermaßen wissendes wie zuversichtliches Gesicht, als bestehe zuerst ein Gesichtsausdruck und dann die Wirklichkeit, die sich an diesen Ausdruck anpaßt.
Was Mercedes aber nicht genügte, weshalb er die Bergrettung anrief und die Umstände bekanntgab. Die Möglichkeit, daß absolut alles in Ordnung war. Und die Möglichkeit des Gegenteils.
Auch in der folgenden Nacht konnte ich schlecht schlafen und wußte am Morgen noch weniger, was in meinen Träumen geschehen war. Ich ging hinunter in die Küche und traf den Messerwerfer, der noch in der Nacht informiert worden war, daß seine Frau wohlbehalten am Tuxer-Joch-Haus angekommen war und dort Quartier bezogen hatte. Mercedes ließ sie freilich ausrichten, ihre Wanderung fortsetzen zu wollen. Wohin genau, sagte sie nicht.
«Sie macht das immer wieder«, erklärte er und strich Butter auf ein Brot,»und ich frage mich, was sie damit bezweckt. Will sie mir angst machen? Weil ich einmal gesagt habe, ich hätte nie in meinem Leben Angst verspürt. Um mich nicht und auch nicht um die Menschen, auf die ich meine Messer geworfen habe.«
Ich schlug Mercedes vor, ebenfalls in die Berge zu gehen. Zusammen mit Kerstin und Simon. Ich sagte:»So schön es hier unten im Tal auch ist, spürt man dennoch … wie heißt das? Na, daß der Berg ruft.«
Kerstin kam gerade herein, hörte mich und äußerte, wohl in Erinnerung an meinen Triumph des Willens:»Das klingt schon wieder so nazimäßig, mein Schatz.«