Alle vier saßen wir eingehüllt in unsere Schlafsäcke im Freien, etwas abseits des Lagerfeuers, um die dichte Schar der Sterne zu betrachten.
«Wir werden morgen noch vor der Lizumer Hütte abzweigen«, erklärte Mercedes.»Und direkt zum Glungezer marschieren. Beziehungsweise zur Tulfeinalm.«
Selbige lag nördlich des Gipfels, und an diesem Ort war auch die Wirtschaft, die Clara Foresta des öfteren aufzusuchen pflegte.
«Was ist dort so besonders?«fragte ich.
«Es ist eine Frauenwirtschaft«, erklärte Mercedes.
«Na, es kommt schon mal vor«, meinte ich,»daß Hütten und Wirtshäuser von Frauen geführt werden …«
«Die Verhältnisse dort sollen schon eher einem Matriarchat ähneln«, sagte Mercedes.
Ich erkannte jetzt die Klinge seines Messers, welches er auf Brusthöhe hielt. Auf dem glatten Stahl spiegelten sich die Sterne. Erneut mußte ich daran denken, wie er die beiden Männer getötet hatte, die Kerstin hatten mitnehmen wollen. Wie perfekt das gewesen war. Messerscharf in jeder Hinsicht. So, wie vielleicht ein Engel oder Heiliger töten würde, müßte er.
Nachdem wir lange genug auf den heimatlichen Sternhaufen geschaut hatten, kehrten wir zu unserem Feuer zurück und rieben unsere Hände an der Wärme.
Später dann, im Zelt, lag Simon zwischen mir und Kerstin. Wir waren jetzt auch eine Art von Milky-Way-Riegeclass="underline" zwei dicke Schichten Schokolade und in der Mitte ein schlankes Band weißlicher Creme.
Ich sagte:»Kafka-loh!«
Das war Simons Begriff für» Gute Nacht!«Ich sprach es ein klein wenig anders aus als er, gewissermaßen mit einem deutschen Akzent und im Bewußtsein, dabei an einen bestimmten Schriftsteller von weitreichender Bedeutung zu erinnern.
Kerstin beschied sich mit einem:»Süße Träume, ihr zwei Schlafschweinchen. «Auch nicht schlecht.
31
Auch in dieser Nacht begegnete ich im Traum dem bereits vertrauten Kleiderschrank. Ich sah ihn von fern und war entschlossen, einen großen Bogen um das Ding zu machen. Aber je mehr ich mich um ein Ausweichen bemühte, desto näher geriet ich an das Objekt. Was für einen Traum ja ganz normal war, diese Aufhebung allgemeiner Gesetze zugunsten spezieller.
Dies begreifend, gab ich es auf zu flüchten und setzte meine Kraft nun ein, auf den Schrank zuzurennen. Dieser war bereits offen, und ich konnte die Gestalt im Taucheranzug erkennen, allerdings auch die Spitze einer … nun, es mußte sich um eine Harpune handeln.
Die Waffe bemerkend, spürte ich sofort den Impuls, jetzt doch einen» großen Bogen «zu beschreiben, riß mich aber zusammen und versuchte weiter, mich dem Schrank zu nähern.
Mein Plan ging auf. Ich überlistete den Traum. Indem ich bemüht war, mich auf die Bedrohung einzulassen, geriet ich ebenso rasch von ihr fort. Ich meinte noch den wütenden Ruf des Zehn-Millionen-Manns zu hören, aber da hatte ich mich schon so weit entfernt, daß ich kaum noch das Möbelstück, geschweige denn den daraus hervortretenden Taucher erkennen konnte.
Es war geschafft!
Die Träume, die jetzt noch folgten, blieben schrank- und taucher- und im Grunde bedeutungslos. Es waren allein Ornamente, die dominierten. Dazu paßte, daß ich im letzten Traum an einen Ort geriet, der mich an Wien erinnerte, wo ich ja einmal zur Fortbildung gewesen war. Überall lagen kleine Stücke von Hundekot herum, aber nicht eklig, eher vergoldet, als seien sämtliche Hunde Jugendstilkünstler. Klimt auf vier Beinen.
Als ich erwachte, in meinem Zelt erwachte, stammelte ich:»Was … wollte er mit der Harpune?«
«Welche … Harpune?«stammelte Kerstin zurück und betrachtete mich mit ganz kleinen verschlafenen Augen.
«Ach, ich … nun, er war immerhin Berufstaucher und …«
«Wer war Berufstaucher?«
Ich richtete mich etwas auf. Zwischen uns lag Simon. Ich konnte ihn riechen. Er roch so frisch.
Doch es war jetzt weniger dieser Geruch, der mich beschäftigte, und auch die Frage nicht weiter, wieso der Zehn-Millionen-Mann diesmal neben Maske und Anzug über eine Harpune verfügt hatte, sondern vielmehr der Umstand eines heftigen Geräusches von außerhalb des Zeltes. Es stürmte. Nicht nur das. Denn obgleich ich es noch nicht sehen konnte, ahnte ich bereits, wie heftig draußen der Schnee fiel.
Schnee, der sogleich eindrang, als ich den Zippverschluß öffnete. Das waren mehr als ein paar verirrte Flocken. Ich griff mit der Hand ins Freie und tauchte sie in die Wächte, die sich vor dem Zelt angehäuft hatte. Der Schnee war weich und auf eine gewisse Weise sogar trocken zu nennen. Einen Moment lang dachte ich, er stamme aus der Produktion einer zur Probe aktivierten Schneekanone. Aber Kitzbühel war weit weg.
Im Geflirre des Schneegestöbers sah ich Mercedes näher kommen, der jetzt natürlich seinen Anorak trug. Er kniete sich zu mir herunter und sagte:»Das ist dumm, meine Lieben.«
«Absolut.«
«Jedenfalls müssen wir warten, bis es vorbeigeht.«
«Gerne«, sagte ich.
«Packen Sie sich da drinnen warm ein«, empfahl er.
Ich fragte ihn:»Wollen Sie nicht zu uns kommen?«
«Danke, das ist freundlich. Aber dann wird es zu eng. Da paßt maximal noch ein zweiter Simon hinein.«
Meine Güte ja, es stimmte, im Grunde hätte ich noch einmal Vater werden können. Diesmal leiblicher. Allerdings nicht mit Kerstin als Mutter. Doch eine andere kam für mich nicht in Frage. Ohnehin fühlte ich mich in meiner Rolle so ungemein komplett. Es fiel mir schwer, mir neben Simon ein zweites Kind vorzustellen.
Ich sah Mercedes hinterher, wie er in seinem Zelt verschwand. Mir war klar, wie sehr er sich gerade jetzt nach seiner Frau sehnte. Ich dachte mir:»Na, immerhin hat er sein Messer.«
Und sprach es auch noch laut aus.
Kerstin hörte mich und sagte:»He, hast du dich schon mal an ein Messer gekuschelt?«
Als verlange diese Frage ernsthaft eine Antwort, sagte ich:»Nein, aber ich hatte als Kind ein Holzschwert, das habe ich immer mit ins Bett genommen. Egal, wie sehr sich meine Eltern aufgeregt haben, weil die gemeint haben, mit einer Waffe schläft man nicht.«
«Das klingt jetzt, als hätten sie Angst gehabt, du könntest mit dem Ding onanieren.«
«He, Vorsicht«, sagte ich und blickte zu Simon, von dem ich ja nie wußte, was er verstand und was nicht. Dann meinte ich:»Entscheidend war, daß ich immer das Gefühl hatte, mit dem Schwert sei ich sicher.«
Meine Güte, wo war dieses Schwert wohl hingekommen? Lag es noch bei meinen Eltern? Dort in Köln? Ich wußte es nicht.
Ich kroch zurück in meinen offenen Schlafsack und bildete mit Kerstin und Simon eine erneute Milchstraßenverbindung.
Es war übrigens nicht so, daß wir uns beim Aufbruch am Vortag nicht über das mögliche Wetter informiert hatten. Doch einen solchen Umschwung hatte niemand prophezeit, auch nicht das Internet, wo gerne und viel gewarnt wird. Aber nicht vor diesem Schnee, der auf einen der schönsten denkbaren Spätsommer folgte.