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Da war er nun, der raffinierte Herbst, einer, der sich zuerst als Sommer verkleidet hatte und jetzt als Winter.

Als wir aus einem Wechsel von Schlafen und Dösen und zeitweiligem halbbewußten Geblödel, in das Simon sich einfügte, endlich so richtig wach wurden, war es Mittag. Und es war draußen sehr viel leiser geworden. Sonnenstrahlen brannten auf das Zelt und trugen die grüne Farbe der Hülle ins Innere.

Als ich aus dem Zelt schlüpfte, sah ich ein letztes Stück der Wolkenfront Richtung Italien verschwinden. Die Blaue Periode war zurückgekehrt, aber warm war es nicht mehr geworden. Die Berge weiß, damit leider auch der markierte Wanderweg. Dennoch mahnte Mercedes zum sofortigen Aufbruch. Die Gunst der Stunde war zu nutzen, und zu hoffen, es würde eine lange Stunde sein.

Ein Glück war auch, daß es Kerstin mit ihrem wehen Bein schon sehr viel besserging, obgleich es nicht einfach war, auf der nachgebenden Schneedecke zu marschieren. Simon freilich bewegte sich mit der Fröhlichkeit und Leichtigkeit eines jungen Hundes. Mercedes wiederum wußte auch im Schnee, wohin es ging. Ich meinerseits trug das schwerste Gepäck. Meine Stärke war mein Rücken.

So gut wir auch vorwärts kamen, den Glungezer erreichten wir an diesem Tag nicht mehr, sondern schlugen zwei Berge vor dem Ziel unser Lager auf. Zelt und Lagerfeuer und Bohnensuppe.

Während Mercedes mit Simon in der Suppe rührte und sie darauf achteten, daß das Feuer nicht ausging, stand ich mit Kerstin ein wenig abseits, und wir blickten auf den sich verdunkelnden Himmel. Ein Himmel frei von Flugzeugen. Offensichtlich hatte der Wintereinbruch auch seine Auswirkungen auf den Flugraum. Es war, als würden in Hitchcocks Die Vögel plötzlich die Vögel fehlen. Darum auch meinte Kerstin:»Ein Himmel so ganz ohne Kondensstreifen wirkt fast unnatürlich. Ich sage jetzt nicht, daß ich die Luftverschmutzung gut finde, aber … ich meine, wenn in einem Gesicht, welches dir vertraut ist, plötzlich die Nase fehlt, bist du auch verunsichert.«

«Du übertreibst«, sagte ich,»einen Himmel ohne Flugzeuge kann man ganz gut aushalten.«

Aber Kerstin beharrte darauf, daß es sie traurig mache, diesen auf eine gewisse Weise leeren Himmel zu betrachten. Menschenleer, um genau zu sein. War doch jedes Flugzeug nichts anderes als ein fliegendes Haus mit Leuten drin.

Ich fragte sie:»Sag, kann es sein, daß du vergißt, daß ich mal abgestürzt bin?«

«Ja, was?«entgegnete sie.»Und jetzt findest du, es wäre besser, wenn nie wieder ein Flugzeug aufsteigt?«

«Gott, Kerstin, wir reden manchmal aneinander vorbei. Weil, so habe ich das wirklich nicht gemeint.«

«Und wie hast du’s gemeint?«fragte sie und zog mit dem Finger eine Spur durch die Luft, als kratze sie einen weißen Strich in den nachtblauen Himmel. Worauf ich meinte:»Gut so, mach dir deinen eigenen Kondensstreifen.«

Ich nahm sie in den Arm. Es war schon komisch zwischen uns. So wirklich gut verstanden wir uns nicht, andererseits …

Ich wußte, daß sie meine letzte Frau sein würde. Egal, wie lange mein Leben noch dauerte.

32

Wenn ich früher als Kind hochgesehen hatte zu einer vorbeiziehenden Wolke, ihre Form feststellend, ihre Ähnlichkeit mit Tieren und Menschen und Gegenständen, mitunter sogar mit Wörtern, hatte ich mich oft gefragt, ob ich genau diese eine Wolke später noch einmal erblicken würde. Dann, wenn sie die Erde umrundet hatte und ein gütiger Wind es unternahm, sie wieder genau an die Stelle hinzublasen, wo ich lebte. Natürlich war mir klar, daß ich dann auch im richtigen Moment draußen sein mußte, um nach oben zu schauen. Ich wußte bereits, was das Wort» Timing «bedeutet.

Zugleich hatte ich die Möglichkeit bedacht, so eine spezielle Wolke könnte auf halber Strecke umdrehen, eine scharfe Kurve beschreiben und denselben Weg zurück nehmen. Um dann freilich schneller zu sein als bei einer Weltumseglung.

Wie auch immer, es war mir mehrmals so vorgekommen, als könnte ich eine bestimmte Wolke wiedererkennen, selbst wenn ihre Gestalt sich gewandelt hatte. Denn so gescheit war ich auch zu wissen, daß Wolken während ihrer langen Wanderungen sich veränderten, wie auch ich selbst mich veränderte. — Gott, bist du groß geworden, sagten die Leute. Oder: Ich hätte dich gar nicht erkannt. Oder: Mit den kurzen Haaren schaust du jetzt wie ein richtiger Bub aus. — Ja, manchmal waren die Wolken gewachsen, oder aber sie hatten Kurzhaarschnitte bekommen. Und trotzdem war ich mir sicher gewesen, die eine oder andere schon einmal gesehen zu haben.

Als ich am nächsten Morgen in unserem Zelt erwachte — ohne Erinnerung an Schränke oder vergoldete Exkremente — und bemerkte, wie der Wind gegen die Plane peitschte, dachte ich mir, daß dieselbe Wolkenfront, die uns am Vortag zu schaffen gemacht hatte und die nach Italien abgezogen war, aus Italien zurückgekehrt war — wie nach einem sehr kurzen, enttäuschenden Urlaub — , um nun erneut in den Tuxer Alpen ein vitales Schneetreiben zu veranstalten.

Und genau das war der Fall. Durch die alpine Waschküche zog ein wildes Heer von Flocken.

Dennoch entschied Mercedes, daß wir uns auf den Weg machen sollten. Er meinte, wir seien nahe genug am Ziel. Zur Not müsse man eben unterwegs ein neues Lager aufschlagen.

Wir gingen los, in den frühen Winter hinein.

Einmal sagte ich zu Kerstin, wobei ich aber zu Simon schaute:»Ein Pferd für eine Skibrille.«

«Eigentlich heißt es ein Königreich«, verbesserte mich Kerstin und meinte dann:»Erinnerst du dich, ich hab gleich gewußt, daß der Junge das Richtige tut.«

Stimmt. Genau so war es gewesen.

Immerhin, wir hatten alle gute Schuhe und feste Jacken und Creme im Gesicht und heißen Tee im Magen und marschierten nun hinter dem Messerwerfer wie hinter einer Entenmutter her. Mercedes wirkte jetzt wieder ungleich größer, als er tatsächlich war, ganz im Stile des Allesforschers.

In unseres Führers Windschatten gelangten wir über Kreuzjöchl und Gamslahner (nicht, daß ich in diesem Moment wußte, wie sie hießen, die Berge, die so gut wie unsichtbar im Schneesturm steckten) und hätten nun eigentlich die Glungezerhütte erreichen müssen und damit auch eine Unterkunft, die wir bei diesem Wetter dringend nötig hatten.

Ich kann wirklich nicht sagen, ob Mercedes uns so geschickt an der Hütte vorbeilotste, daß wir sie nicht zu Gesicht bekamen, oder wir alle im Schneegestöber gar nicht bemerkten, knapp daran vorbeimarschiert zu sein. Keine Frage, daß Mercedes so rasch als möglich zu seiner Frau wollte, die er ja auf der anderen Seite des Berges vermutete, in der tiefer gelegenen Almhütte.

Wie auch immer, wir verfehlten die Glungezerhütte.

(Mir ist klar, wie viele Leute jetzt den Kopf schütteln wegen der Nachlässigkeit, mit der ich meinen Sohn in eine solche Situation gebracht hatte. Aber ich war immerhin bei ihm und mit ihm. Andere setzen ihre Kinder vor den Fernseher oder den Computer und stellen Schalen mit Chips hin oder drücken ihnen Geld in die Hand und sagen» Geh ins Kino!«und behaupten, damit die Unabhängigkeit ihrer Sprößlinge zu fördern. Jede Abschiebung, vom Kindergarten an, wird heutzutage von einem Selbständigkeitstheater begleitet.)

Wir gerieten infolge unserer Hüttenverfehlung alsbald an einen steilen Abhang, wobei an manchen Stellen der Weg fast frei lag, blank geputzt vom Wind. Was sich wieder änderte, als es flacher wurde. Nun sanken wir bis zu den Knien ein.

Einmal rief ich nach vorn zu Mercedes und erkundigte mich, ob wir noch auf dem richtigen Weg seien.

«Sehen Sie hier einen Weg?«brüllte er zurück.»Aber die Richtung stimmt, keine Angst.«

Das hoffte ich sehr. Ich war jetzt wirklich erschöpft, Kerstin ebenso, und selbst Simon wirkte müde. Meine Finger schmerzten in einer Weise, als würden sich zehn kleine Nager an meine Kuppen klammern und verbissen saugen. In die Schuhe waren trotz Gore-Tex die Kälte und die Feuchte eingezogen. Ich hätte mich gerne in den Schnee gesetzt, anstatt mit jedem Schritt einzubrechen. Aber Mercedes trieb uns weiter an. Eine Entenmutter war eine Entenmutter.