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Es wurde zusehends dunkler. Dabei war es erst zwei Uhr. Wenigstens auf den Uhren.

«Ich kann nicht mehr«, dachte ich und formte auf meinen Lippen den gleichen Satz, der dort aber augenblicklich eine gefrorene Form bildete.

Mir war jetzt, als würden sich meine Knochen auflösen, bröselig werden, als wollten sie sich letztendlich in einen tiefgekühlten Brühwürfel verwandeln. Mit einem Brühwürfel kann man nicht gehen. Folgerichtig stürzte ich.

Es gibt da diesen Spruch: Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.

Erbärmlich und kitschig. Aber mitunter richtig. Man wird gleich sehen, warum ich das sage.

Ich stürzte also, tauchte ein in das weiße Pulver, mit dem Kopf voran, tauchte so vollständig in die lockere Masse von Schnee. Ganz Schneemann.

Und wenn sich nun ein anderer erbärmlicher und kitschiger Satz anbot, dann sicherlich der, man könne nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.

Ich blieb liegen. Wollte nicht mehr aufstehen. Spürte nun aber eine Hand auf meinem Rücken. Simons Hand, keine Frage, obgleich sie ja in dicken Handschuhen steckte, doch ich meinte ganz deutlich ihre Form zu erkennen, die schmalen Finger, mit denen er sich so gekonnt an winzigen Vorsprüngen festzuhalten verstand: einen Cliffhanger an den anderen reihend.

… nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. In ganz ähnlicher Weise fühlte sich Simons Hand an, auch wenn sie nicht unter mir, sondern auf mir lag. Aber im Universum gibt es ja kein wirkliches Oben und Unten.

Mich im Banne von Simons kleiner, göttlicher Hand wissend, spannte ich meinen Körper an, tauchte mit dem Kopf hoch und …

«Dort!«brüllte ich.

Zwischen mehreren Tannen, die von der Last des Schnees geradezu fett wirkten, erkannte ich einen Lichtschein. Welchen ich gar nicht hätte sehen können, wäre ich nicht genau in der liegenden Position gewesen, in die mein Sturz mich befördert hatte. Denn als ich mich nun wieder ganz aufrichtete, verschwand der gelbliche Lichtschein aus meinem Gesichtsfeld.

Ohne diesen Sturz wären wir an der Hütte vorbeimarschiert. Und das ist der Punkt, will man den Satz Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her ernst nehmen. Man muß vorher stürzen!

«Mannomann!«sagte Mercedes und vollzog eine Rechtskurve, die uns an die Hütte heranführte. Aus den Fenstern strömte Licht, ungemein einladend, weihnachtlich.

Doch für einen kleinen Moment — in dem ich mir nicht sicher war, ob das hier nicht etwa ein Traum war und diese Hütte das Gefahrenpotential eines Kleiderschranks und einer daraus hervorgehenden Harpune besaß — hielt ich inne. Ich fragte mich allen Ernstes, ob wir in eine Falle gingen. Mußte mich allerdings auch fragen, inwieweit es überhaupt eine Alternative gab. Inmitten dieses Schneetreibens. Noch dazu für jemanden, der überzeugt war, daß alles geschah, wie es geschehen mußte.

Wir waren wirklich am Ende unserer Kräfte und mußten froh sein, wenn wir nicht in den nächsten Tagen mit unseren Namen (und zu jedem Namen das Alter in der Klammer) in den Zeitungen stehen würden.

«Was ist denn los? Komm doch endlich!«Es war Kerstin, sie griff nach Simons Hand. Welcher sich aber sträubte und zu mir zurücksah. Kerstin wiederholte:»Meine Güte, Sixten, ich will hier nicht erfrieren.«

«Ach was denn, wirklich?«Und dachte mir:»Du blöde Kuh!«

Ja, sosehr ich sie liebte, dachte ich das manchmal.

Sodann aber löste ich mich aus meiner Starre und war rasch auf einer Höhe mit ihr und Simon.

Zu dritt erreichten wir Mercedes, und zu viert traten wir in die Hütte.

33

Wenn es in einem Filmtitel Fellinis heißt Stadt der Frauen, dann war dies hier eine Hütte der Frauen. Was nicht bedeutete, daß es allein Frauen waren, die die dunklen, niedrigen Räume füllten und an allen Ecken und Enden ein dichtes Menschengedränge bewirkten. Die Männer waren sogar in der Mehrzahl. Aber auch Plankton ist in der Mehrzahl. Oder dunkle Materie. — Stimmt, Mercedes hatte mich vorgewarnt. Doch auch ohne diese Vorwarnung hätte ich rasch begriffen, wie sehr die Verhältnisse in diesem Gebäude — ein Gebäude, das quasi eine Insel war — von den Frauen bestimmt wurde. Ihre Macht war augenblicklich spürbar. Wie ein Geruch, der auch in verstopfte Nasen dringt.

Wir waren natürlich nicht die einzigen, die von diesem Wetterumschwung, dieser jahreszeitlichen Rochade überrascht worden waren. Die meisten Leute hier waren Gefangene des Wetters und damit auch Gefangene der Gastronomie. Und bald wurde zudem klar, wie wenig dieser Wetterumschwung bloß ein kleines Intermezzo darstellte und demnächst die Wärme zurückkehren und das Wasser in Strömen vom Berg rinnen würde, gleich einem Langhaarigen, der unter der Dusche steht.

Nein, keine Dusche ergab sich, sondern eine dicke, mit Mehl gepuderte weiße Perücke der Zeit um 1700, welche Stunde um Stunde anwuchs und es unmöglich machte, hinunter ins Tal zu gelangen. Man war, wie man so sagt, von der Welt abgeschnitten. Wir vier waren die letzten» Schiffbrüchigen«, die auf die Insel der Tulfeinalm geraten waren.

Wie ich sehr bald feststellte, wurde die Hütte von einer fünfzigjährigen Frau und ihren Töchtern betrieben. Es gab zwar auch einen Wirt, der jedoch von der Chefin (in der Tat wurde sie von allen als solche tituliert) in ihrem Zimmer … nun, wie soll ich das ausdrücken: aufbewahrt wurde? Ich meine, er war selbstverständlich am Leben, nicht etwa ausgestopft oder so, durfte dieses Zimmer aber nicht verlassen. Vielleicht wegen einer Krankheit oder Entstellung, vielleicht … Ich wußte es nicht und brachte es auch niemals in Erfahrung. Möglicherweise existierte dieser Mann nicht wirklich, und es bestand allein das Gerücht. Ein Gerücht, das die Chefin der Hütte schmückte. Jeder hier hatte Angst vor ihr. Aber eben eine Angst, in der dieselbe Lust steckte, die uns dazu bringt, uns Horrorfilme anzusehen und Kriminalromane zu lesen.

Am wichtigsten war freilich, daß Clara Foresta es ebenfalls geschafft hatte, die Hütte zu erreichen. Allerdings hatte sie sich unterwegs verletzt, war am Gipfel der Sonnenspitze ein Stück abgerutscht. Glücklicherweise waren zwei Bergsteiger in der Nähe gewesen und hatten sie geborgen. Die alte Dame hatte jedoch darauf bestanden, nicht in die nahe gelegene Gipfelhütte des Glungezer gebracht zu werden, sondern hinunter zur Tulfeinalm. Zur Chefin. Und so kam es, daß Mercedes seine Frau genau an der erwarteten Stelle traf. Mit einem Kreuzbandriß, einigen Prellungen und einer Schnittwunde quer über die Stirn, einem dunkelroten Streifen, der exakt dieselbe Färbung aufwies wie das Rouge auf Forestas Wangen, auch wenn man es umgekehrt sehen konnte. In jedem Fall wirkte die Verletzung als ein Teil der kosmetischen Farbgestaltung dieses Gesichts.

Die Männer, die um Foresta saßen — egal, wie alt sie war, sie verfügte weiterhin über eine magnetische Wirkung — , machten Platz für Mercedes, der nun die Hände seiner Frau ergriff und sich überzeugte, daß diesen nicht das geringste geschehen war. Es war echte Sorge. Allerdings kam mir der Verdacht, daß er sich auch um sich selbst sorgte, weil er fürchtete, in eine wahrhaftige Hölle zu geraten, hätte seine Frau das Klavierspiel aufgeben müssen.

Doch ihre Hände waren vollkommen in Ordnung, die Finger zitterten in der vertrauten Art, und glücklicherweise gab es sogar ein Klavier in diesem Haus. Keinen Steinway-Flügel, das nicht, aber ein ganz ordentlich gestimmtes Piano, auf dem Clara ihre Einstudierung von 825 (so das Bach-Werke-Verzeichnis) fortsetzen konnte. Ja, wir sprachen von nun an nur noch von 825, wenn wir diese Komposition meinten (und außerdem auch meinten, daß 825 eigentlich mehr von Foresta als von Bach stammte und man wegen Forestas Handicap zur Zeit von einer» Kreuzbandrißversion «sprechen konnte).