Statt dessen fragte ich Auden, woher er seinen Namen habe.
«Von meinen Eltern.«
«Ich meine den Vornamen.«
«Auch von meinen Eltern. Sie sind große Fans von Auden, Auden, dem englischen Schriftsteller.«
«Dablyu-aitsch«, nannte ich die bekannten Initialen, gestand aber gleich, nur ein einziges Gedicht dieses Autors zu kennen, und das aus einem Film.
Wie um mich mit einem solchen Geständnis nicht allein zu lassen, verriet mir Auden, vor etwa zehn Jahren seinen richtigen Namen — also Auden Chen, denn das war ja sein richtiger — abgelegt und mit Hilfe gefälschter Papiere eine neue Identität angenommen zu haben.
«Ich war auf der Flucht«, sagte er.»Aber nicht, weil ich selbst kriminell war, sondern gezwungen, sehr gezwungen, einigen Kriminellen zu entkommen. Das ist aber lange vorbei, und ich denke nicht, daß ich diese Leute noch fürchten muß. Darum habe ich vor kurzem wieder begonnen, meinen alten Namen zu verwenden.«
«Was doch eigentlich bedeuten würde, daß Sie auch wieder heim nach Taiwan könnten.«
«Zurück in mein altes Leben? Nein, wirklich nicht. Es geht mir gut hier.«
«Als Küchenhilfe?«
«Was tun Sie denn for a living?«fragte Auden.
«Ich bin Bademeister in Stuttgart«, sagte ich.
«Waren Sie das immer schon?«
Er hatte mich erwischt. Im Grunde befand ich mich in einer durchaus ähnlichen Situation wie er. Vom Manager zum Retter der Enten. — Und er? Was war er vorher gewesen?
Ich stellte die Vermutung an, er sei früher einmal ziemlich reich gewesen.
«Ganz passabel«, antwortete er.
«Und wie ist es so, in der Küche zu stehen?«
«Am Anfang war es Tarnung«, erklärte er.»Ich war froh, daß Marlen, unsere Chefin, mich aufgenommen hat. Hier oben. Als ich noch ein Versteck brauchte. Sie ist eine gute Frau. Streng, aber gut. Früher war ich viel unterwegs. Jetzt stehe ich die meiste Zeit am gleichen Flecken, vor einem Küchenherd. Aber es gefällt mir, wie es mir gefällt, mit den immer gleichen Leuten zusammenzusein. Den Wald vor dem Haus zu kennen, wirklich jeden Baum. Dazu der Ehrgeiz, eine perfekte Suppe zu machen. Nicht der Ehrgeiz, mit dieser Suppe ins Fernsehen zu kommen, Fernsehkoch zu werden oder so prominent zu werden, daß man auch mit einer schlechten Suppe ins Fernsehen kommt.«
«Sie gehören zur Familie, nehme ich an.«
«Sie meinen, ob ich mit einer der Damen …?«Er schüttelte den Kopf.
Ich wunderte mich. Er mit seinem French Style, seiner Charles-Aznavour-Methode! So ungemein gutaussehend und elegant und asiatisch reduziert, auch hieß es, daß unter seinen Fingern die Kaspreßknödel eine besonders formschöne Gestalt erhielten und er angeblich ein eigenhändig gemischtes, magisch angehauchtes Kräutersalz zur Anwendung brachte. Jedenfalls dachte ich mir, daß er der absolut Richtige war, um der Chefin Liebhaber zu sein. Oder einer der Töchter der Chefin. Was aber nicht der Fall war. Ich mußte bald einsehen, daß Auden Chen tatsächlich zu keiner der Frauen gehörte. Und auch zu keinem der Männer. Auden war solo, wie man sagen könnte, ein Solitär sei solo.
Ich selbst verblieb vorerst in der Rolle des reinen Gastes. Niemand verlangte von mir, etwas zu arbeiten, so wie auch Mercedes sich allein seiner Frau widmen durfte. Das war bei den meisten anderen nicht der Fall. Die Chefin bestimmte immer wieder kleine Gruppen — dabei zeigte sie auf die ausgewählten Männer, wie man das tut, wenn man am Gemüsestand das beste Obst aussucht — und wies sie an, Schnee zu schaufeln, den Ofen am Brennen zu halten, Reparaturen vorzunehmen, Vorräte aus dem Keller zu holen, die Toiletten in Schuß zu halten oder mit den Kindern vor dem Haus Schneemänner und dergleichen zu bauen. Um die Hütte herum ragten bald gewaltige Figuren in die Höhe. Sollten wir von Außerirdischen angegriffen werden, würden die es sich sicher zweimal überlegen.
Zu nichts davon, auch nicht zur Küchenarbeit, wurde ich ausgewählt. Darum dachte ich, es würde wohl genügen, mit Kerstin zusammenzusein.
Aber das war ein Irrtum.
Es geschah bald etwas Unweigerliches. Eine der Frauen bekam die Wehen. Keine Ahnung, ob sie ohnedies vorgehabt hatte, oben am Berg ihr Kind auszutragen, oder vielmehr geplant hatte, zur rechten Zeit ins Tal zu gelangen, und sodann vom stark verfrühten Wintereinbruch wie auch auch vom leicht verfrühten Zurweltkommen ihres Kindes überrascht worden war.
Ich saß gerade mit Simon an einem der vollbesetzten Tische, und wir spielten Go, jenes japanische Brettspiel mit schwarzen und weißen» Linsen«, das auch dann nett anzusehen ist, wenn die Spieler wenig zusammenbringen. Wobei Simon in dieser Disziplin einiges an Geschick und Intelligenz bewies, während ich selbst ein verkrampftes Kopfzerbrechen übte und genau die Züge tat, über die man sich im nachhinein nur wundern kann.
Jedenfalls kam die Chefin zu uns herüber und sagte zu mir:»Es ist soweit.«
«Wie bitte?«
«Die Katrin liegt in den Wehen.«
Ich wußte, wer die Katrin war, und hatte natürlich ihren beträchtlichen Bauch wahrgenommen. Sie war noch keine zwanzig und die jüngste Tochter der besten Freundin der Wirtin. Wer der Vater war, konnte ich nicht sagen. Ich jedenfalls nicht. Darum irritierte mich die direkte Ansprache. Ich schaute fragend zur Chefin hoch.
Sie hatte die Hände in ihre breiten Hüften gestützt und schenkte mir einen steinigen Blick aus fleischigen Augen. Als schaue eine große offene Kirsche. Im Grunde war sie eine wirklich häßliche Person. Trotzdem hätten die meisten Männer hier viel darum gegeben, mit ihr …
Aber darum ging es jetzt nicht. Sie herrschte mich an:»Willst du denn warten, bis alles vorbei ist?«
Endlich begriff ich. Ich begriff, worin meine Funktion bestand. Und schließlich war es genau das, was mir Mercedes im Traum prophezeit hatte. Wie hatte er gesagt? Werde Geburtshelfer!
Ich hätte freilich erklären können, nicht die geringste Ahnung zu besitzen und im Unterschied zu anderen Männern im Haus nicht einmal einen Geburtsvorbereitungskurs besucht zu haben, Simon wäre ja nicht mein leibliches …
Blödsinn! Hier war keine Zeit und kein Ort für Ausreden. Ich erhob mich und sagte:»Ich komme.«
«Hätte ich dir auch geraten, Sixten, mein Junge«, erklärte die Chefin. Sie war ein echtes Goldstück. Ein lebensgroßes Nugget.
Ich gab Simon ein Zeichen, bei dem Go-Brett zu bleiben, und folgte der Chefin in einen hinteren Raum, in dem die werdende Mutter lag, umringt von vielen Frauen. Jede von ihnen war tausendmal geeigneter, den Geburtsvorgang zu überwachen. Aber sie bestanden nun mal darauf, daß ich es tat.
Absolut nichts Ungewöhnliches geschah. Kein Schamanismus oder so. Keine Gesänge, kein Weihrauch, nur eine Frau mit Schmerzen, der ich immer wieder mit einem kühlen Tuch über die Stirn strich. Alles, was ich tat, hatte ich aus dem Kino oder dem Dokumentationsfernsehen. Glücklicherweise verlief die Sache ohne jegliche Komplikation, das Kind hatte offensichtlich nicht vor, nur um meine Unerfahrenheit zu beweisen, sich länger als nötig im Geburtskanal aufzuhalten. Ich rief fortgesetzt Pressen! und Atmen! und Atmen nicht vergessen! und Ruhig atmen! und Durchatmen! und Schön atmen! — es schien, als wäre ich von der Fraktion derer, die meinten, ein Kind könne allein durch richtiges Atmen auf die Welt gebracht werden. Jedenfalls erkannte ich bald den glatten, feuchten, ein wenig blutigen Schädel zwischen den Beinen, mittig ein kleines Büschel heller Haare, und erklärte mit einer ruhigen Stimme, die mich selbst beeindruckte:»Der kommt jetzt.«
«Es ist eine Sie«, sagte die Chefin hinter mir.
Klar, daß sie mehr wußte als ich. Aber ich ließ mich nicht durcheinanderbringen, gab weiterhin Anweisungen bezüglich» guten Atmens «und faßte vorsichtig nach der weichen Schädeldecke des Neugeborenen. Ich tat wirklich nicht mehr, als den Kopf einfach wie eine Melone umfaßt zu halten. Das Kind drehte sich ganz von selbst heraus. Wären die Männer vom Stammtisch dabeigewesen, sie hätten sicher gemeint, die Kleine sei so schnell gekommen, um sich nicht weiter mein Gequatsche von wegen Atmung anhören zu müssen.