Выбрать главу

Wie auch immer, das Kind flutschte mit Leichtigkeit ins Freie, in die neue Welt. Es war in der Tat ein Mädchen, mit einem Haarschopf, als wäre es schon vor seiner Geburt beim Friseur gewesen. Jetzt dachte ich kurz nach, ob ich die Kleine allen Ernstes kopfüber an den Beinen halten und ihr einen Klaps auf den Po geben sollte. War das heute noch üblich? Oder nur noch in alten Filmen? Und was war mit der Nabelschnur? Sofort durchtrennen? — Man hätte mir Zeit geben sollen, mich zu informieren.

Ich stand einfach da und hielt das Kind in den Händen. Vergaß immerhin nicht, den kleinen Kopf zu stützen. Dabei schaute ich die Mutter an, fragte sie, wie es ihr gehe und wie sie ihr Kind nennen werde.

Die Nachfrage mochte etwas aufgesetzt scheinen — in der Tat betrachtete mich die Chefin mit einer härteren Version ihres Kirschblickes — , die Mutter aber sah mich dankbar an. Sie sagte:»Nana.«

Tirolerisch war das nicht. Aber hübsch. Das sagte ich auch. Und fragte mich, was ich wohl geantwortet hätte, hätte das Kind Nancy geheißen. Aber bei so viel Glück mit der Geburt war eben auch der Name ein Glück.

Die Chefin nahm mir nun das Neugeborene aus der Hand, umwickelte es mit einem Tuch und legte es der Mutter auf die Brust. Was auch immer jetzt noch kam — Nabelschnurdurchtrennung, die Untersuchung der nachfolgenden Plazenta, das Trockentupfen des Kindes — , es war nicht mehr mein Job. Ich durfte gehen.

Es geschah übrigens später nicht, daß mich irgend jemand als» männliche Hebamme «ansprach, auch war ich in keiner Weise in die Pflege des Kindes oder die Pflege der Mutter involviert. Niemand verlangte nach meinen guten Ratschlägen. Auch blieb man mir eine Erklärung schuldig, wieso ausgerechnet ich ausgewählt worden war, diese Geburt zu begleiten.

«Vielleicht«, sagte Auden,»waren Sie für die so etwas wie der gute Geist.«

Bei Geist dachte ich an jemand Toten, der noch immer unter den Lebenden wandelte, wenigstens deren Träume bevölkerte, jemanden wie Astri, jemanden wie den Zehn-Millionen-Mann, wobei der sicher kein guter Geist war.

Zu Mercedes sagte ich:»Genau, wie Sie mir im Traum vorausgesagt haben.«

«Und wie war es?«

«Ich hatte Glück mit dem Kind«, sagte ich.»Eine Bilderbuchgeburt.«

Stimmt. Das Kind namens Nana hatte es vermieden, bereits in diesem ersten frühen Stadium das wesentlichste Element des Lebens zu leben: die Komplikation.

34

Mit der Geburt Nanas wurde das Wetter ein wenig besser. Der Schnee fiel gemächlich, und man konnte wieder mehr sehen als bloß die eigene Hand.

Ich stand mit Auden und anderen auf der Terrasse. Ein Trupp Männer war oben auf dem Dach und reparierte die Antenne. Die Chefin kam heraus und warf ihnen einige Flaschen Bier hoch. Dann trat sie zu uns hin, zu mir und Auden, und sagte:»Habt ihr Angst?«

«Wovor?«fragte ich. Und fragte im Übermut:»Vor Ihnen?«

«Nur weil du die Geburten machst, brauchst du nicht zu denken, du könntest frech werden.«

Es war ein deutliches Zeichen ihrer Macht, daß die Chefin alle duzte, jedoch verlangte, gesiezt zu werden. Nur wenigen war erlaubt, sich einen vertraulichen Ton herauszunehmen. Etwa Auden, der schon. Ich fand eigentlich, nach der Sache mit der Geburt dieses Privileg ebenfalls zu verdienen, aber …

«Folgendes«, erklärte die Chefin,»ich will, daß ihr beide zum Gipfel aufsteigt, zur Glungezerhütte. Wir hatten gerade Funkkontakt. Denen ist ein Hund zugelaufen. Der gehört zu uns. Er muß sich verlaufen haben, als das mit dem Schneesturm begann.«

Ich hätte jetzt gerne gefragt, wieso der Hund allein draußen gewesen sei und wieso er nicht dort oben bleiben könne, zumindest bis sich die Verhältnisse deutlich gebessert hätten. Aber das waren einfach keine Fragen, die man der Chefin stellen konnte. Immerhin wagte ich es, darauf zu verweisen, daß ich weder Bergführer noch Bergretter sei und es sicher hier Männer gebe, die sich eher eigneten, hochzugehen, um einen Hund abzuholen.

Doch die Chefin insistierte:»Ihr zwei macht das. Ihr seid die Richtigen.«

«Mercedes«, sagte ich.»Ich hätte gerne noch Mercedes dabei.«

«Ich glaube nicht«, meinte die Chefin,»daß er von seiner Frau weg will. Er klebt so lange an ihr, bis sie wieder ganz gesund ist.«

«Trotzdem«, sagte ich.»Wir brauchen ihn.«

«Mal sehen«, sagte die Chefin.»Jedenfalls geht ihr heute noch los. Solange das Wetter so ruhig ist. Es soll bald wieder schlechter werden.«

Auden seufzte.

«Hör auf zu seufzen«, sagte die Chefin und ging.

Eine Stunde später standen wir bereit. Ich trug Simons Kinderskibrille, obgleich ich auch eine für Erwachsene hätte haben können. Aber er bestand darauf, daß ich seine nahm. Ich konnte ihm das schwer abschlagen. Außerdem paßte sie ganz gut, ich hatte im Sommer ein wenig abgenommen, scheinbar auch im Gesicht.

Als ich Mercedes sah, dankte ich Gott im Himmel.

Er sagte:»Aber am Abend will ich wieder daheim sein.«

Meine Antwort:»Ich auch.«

Wir gingen los. An den Füßen Tourenskier, deren Laufflächen mit Fellen ausgestattet waren, die ein Abrutschen verhinderten.

Wir kamen gut vorwärts und erreichten auf halbem Wege unsere Zwischenstation, Heinrichs Schäferhütte. So hieß sie und war nun wirklich eine Hütte: Steine und Bretter zum Obdach gewachsen. Sogar mit einer Nummer ausgestattet, der Fünf, als stünde hier eine Reihe schnuckeliger Einfamilienhäuser. Allerdings abgeschlossen. Eine windgeschützte Bank lud zur Pause ein. Eine Einladung, der wir folgten. Wir aßen Stücke von Graukäse, die zwischen kalten Scheiben dunklen Brotes steckten, und tranken heißen Tee aus Thermosflaschen.

Wir saßen schön geordnet nebeneinander, schwiegen, aßen. Ich rechtsaußen. Als Mercedes mit seinem Brot fertig war, neigte er seinen Kopf in meine Richtung und berichtete mir, Simon habe gestern abend ein Porträt von ihm und Clara angefertigt. Und dann sagte er in einem Ton, der eher in eine Geheimdienstgeschichte gepaßt hätte:»Sie wissen ja wohl, warum ich Ihnen das erzähle. Der Junge ist … wie alt?«

«Neun Jahre.«

«Mit neun Jahren zeichnet so kein Mensch, oder? Heutzutage nicht mal die, die schon an der Kunstakademie sind und dort mit ihren Videokameras spielen.«

«Daß Simon besonders ist, haben Sie doch bereits mitbekommen.«

«Das ist aber schon sehr besonders, so zu zeichnen.«

«Nun ja, dafür kann er andere Dinge gar nicht«, bemühte ich mich, bei aller Besonderheit dieses Kindes doch auch seine Normalität zu betonen. Denn im Grunde will man ja weder ein Monster noch ein Genie zum Sohn.

«Sie meinen«, sagte Mercedes,»er kann nicht reden.«

«Zum Beispiel.«

«Möglicherweise ist die Sprache, die er spricht, um einiges komplexer als die unsere.«

«Was wollen Sie andeuten, Herr Mercedes, daß mein Sohn ein Außerirdischer ist?«

«Ich stelle nur fest, daß er zeichnet wie ein Alter Meister.«

«Picasso konnte das auch so früh.«

«Konnte Picasso klettern? Ich habe gehört, Simon sei ein begnadeter Sportkletterer. Und bis jetzt hat auf der Hütte noch jeder beim Go gegen ihn verloren.«

«Er ist ein Kind. Ein Kind mit Höhen und Tiefen, mit Talenten genauso wie mit zwei linken Händen. «In meiner Stimme war Ärger. Und verärgert, wie ich war, fragte ich:»Was wollen Sie mir überhaupt sagen? Daß sich bei meinem Sohn eine Teufelsaustreibung aufdrängt? Oder ich die CIA anrufen soll, in meiner Familie wäre E.T. untergetaucht?«