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Als ich erwachte, lag ich allein im Bett. Ich richtete mich auf und registrierte, daß Lana am Fenster stand. Mit dem Rücken zu mir, erkannte ich ihr Kostüm.

Sie drehte sich um. Ihr Gesicht wirkte noch ein wenig müder als am Abend zuvor, und darum noch ein wenig hübscher. Ich fragte mich, wie Lana aussehen würde, wenn sie hundert war. Wahrscheinlich vollkommen. Auch war ich überzeugt, sie könne ein solch hohes Alter mit Leichtigkeit erreichen.

«Frühstück im Zimmer?«fragte sie, während sie sich neben mich aufs Bett setzte, an die Kante, so nah wie fern, als wäre ich wieder in der Rolle des Patienten.

Ich nickte. Sie griff zum Telefon und bestellte. Auf chinesisch. Und zwar erstklassig. Zur Not hätte sie auf Dolmetscherin umsatteln können. Was mir selbst auch nach einem Dutzend Kurse nicht vergönnt gewesen wäre: diese Art zu reden, schlangenhaft. Für mich klingt Chinesisch, als hätte Walt Disney es erfunden.

Zur deutschen Sprache zurückkehrend, sagte Lana:»Ich muß nachher bald in die Klinik.«

«Wieso? Ist schon wieder ein Wal explodiert?«

Sie lachte mit weißen Zähnen. Ja, auch ihre Zähne erkannte ich. Der Golfplatz meines Gedächtnisses war jetzt ein übersichtliches, hübsch beflaggtes Grün.

Wir frühstückten im Bett, woraus sich ein französisches Gefühl ergab, auch dank der Croissants. Ich bat Lana darum, mich am Abend desselben Tages noch zu treffen. Nicht zuletzt, weil ich tags darauf nach Tokio aufbrechen mußte, um mich dort an den Verhandlungen eines Tochterunternehmens zu beteiligen.

Lana nannte mir den Namen einer Bar, und wir verabredeten uns. Sie schleckte sich ihre Fingerkuppen ab und drückte mir eine ihrer Fingerspitzen an die Stirn, stattete mich solcherart mit einem kleinen, runden, durchsichtigen Kreis aus Speichel und Fett aus: einem dritten Auge. Sie segnete mich auf diese Weise, und dann ging sie. Ich sah ihr nach. Als die Tür zufiel, spürte ich einen Stich in meiner linken Brust, als hätte mir jemand einen Button an die bloße Haut geheftet. Nein zur Atomkraft. Ja zur Sonne. Wobei ich eigentlich für die Atomkraft war, trotz Tschernobyl und Strahlung. Ich war ja auch für den Straßenverkehr, trotz mancher Unfälle hier und da. Aber noch mehr war ich — zumindest seit gestern nacht — für die Sonne.

Mein Herz? fragte ich mich.

Na, ganz sicher mein Herz.

Den Vormittag verbrachte ich damit, meine Tokioreise vorzubereiten, aß mittags in einem kleinen Restaurant und suchte am Nachmittag jene Straße auf, in der das Unglück mit dem Wal geschehen war. Natürlich war nichts mehr zu erkennen, was die kürzlich erfolgte Explosion verraten hätte. Hier waren keine Häuser eingestürzt, das Blut längst weggewaschen. Keine Walreste zu besichtigen. — Ich schaute auf die Uhr. Vier Stunden noch, bis ich Lana treffen würde. Gott, wie ich mich nach ihr sehnte, nach ihrer souveränen Art, mit der sie darauf bestand, mich zu siezen, und mir einen Teil ihres Körpers verweigerte. Mir dann aber höchstpersönliche Aschekreuze auf die Stirn drückte.

Ich begab mich noch einmal in das Hotel, aus dem ich gekommen war, als mich der Pottwal erwischt hatte. Dort setzte ich mich in die Lounge und bestellte mir zum Kaffee (eine schwarze Suppe, um genau zu sein) ein Stück Papier und einen Bleistift. Ich wollte Lanas Gesicht aufzeichnen, ein bißchen Matisse spielen. — Absolut lächerlich! Was dachte ich mir? Daß das Wunder der Liebe ein plötzliches Genie aus mir machte? Nein, das Gesicht, das auf dem Papier entstand, setzte sich zwar aus wenigen Strichen zusammen, doch auch wenige Spielzüge führen nicht unbedingt zum Tor. Das Gesicht, das ich gezeichnet hatte, verspottete die Wirklichkeit. Auch die Wirklichkeit, wie sie vielleicht in siebzig Jahren bestehen mochte, etwas, worauf große Künstler gerne verweisen, wenn die von ihnen Porträtierten sich nicht wiedererkennen.

Ich legte den Bleistift weg und trank meine Suppe.

Um so schöner, als ich abends Lana wiedersah: das Original. Sie trug dasselbe Kostüm wie am Vorabend und Morgen, mit derselben im Rot sich verbergenden Brosche. Was mich dazu verführte, uns zwei Campari zu bestellen, ohne Lana aber zu fragen, ob ihr das überhaupt recht sei.

Sie ließ es geschehen.

Ich hob mein Glas ein wenig in die Höhe und erklärte feierlich:»Auf diesen Abend und diese Nacht!«

«Und danach?«fragte sie und trank einen Schluck.

«Sie wissen ja, Frau Doktor, daß ich morgen nach Tokio muß. Aber ich komme wieder.«

«Hierher?«

«Natürlich. Ich fliege erst Ende der Woche zurück nach Köln.«

«Klar doch, Ihre Verlobte wartet.«

Ich erschrak.»Mein Gott, woher wissen Sie das?«

«Keine Panik! Ich mach ja kein Drama draus«, versicherte sie und erklärte mir, als zuständige Ärztin mit meiner Verlobten in Köln telefoniert zu haben. Es sei ihre Pflicht gewesen.

Ich fragte:»Wieso? Um ihr zu sagen, ich sei verrückt geworden?«

«Nein, so was geb ich nicht weiter«, meinte Lana und lächelte,»das fällt unter die Schweigepflicht. Außerdem, als ich mit ihr sprach, da lagen Sie noch im Koma. Ich mußte Ihre Verlobte über die Aussichten aufklären, und die waren zu diesem Zeitpunkt gar nicht rosig. — Eine gefaßte Frau, wenn ich das sagen darf.«

«Ich glaube nicht, daß ich mit ihr zusammenbleiben möchte.«

«Wieso? Weil sie gefaßt war, anstatt zu schreien und Gott zu verfluchen?«

«Nein, nicht darum.«

«Doch nicht wegen dem, was gestern zwischen uns war und was heute noch zwischen uns sein wird?«

«Wäre das so ungewöhnlich?«fragte ich.»Konsequenzen ziehen?«

«Es wäre eine Übertreibung, deshalb eine Verlobung zu lösen. Sie werden doch sicher wissen, was Sie drüben in Europa an dieser Frau haben.«

Genau das wußte ich eben nicht. Nicht mehr. Und hatte nicht die geringste Lust, es erneut in Erfahrung zu bringen. Ich sagte:»Ich weiß vor allem, was ich an Ihnen habe.«

«Klar doch, nach einer Nacht kennt man sich aus«, meinte sie spöttisch. Und dann, vollkommen ernst:»Hören Sie mir zu, Sixten … Was ist das überhaupt für ein Name, Sixten?«

«Schwedisch.«

«Sixten Braun. Ich dachte mir, als ich ihn das erste Mal hörte, das klingt schon sehr nach Geheimagent. Wie erfunden, wie aus einem Groschenroman.«

«Ist aber echt.«

«Trotzdem sollten Sie aufhören, sich was einzureden. Wir schlafen heute noch einmal miteinander, und das war’s dann. Die Ärztin und ihr Patient, letztes Kapitel. Sie sind völlig gesundet, und ich kann Sie entlassen.«

«Stimmt nicht«, warf ich ein,»ich bin noch immer krank. Ich hatte heute einen heftigen Schmerz in der Brust. Mein Herz. Wenn ich zurückkomme, müssen Sie mich untersuchen.«

«Ich bin für Ihr Hirn, nicht für Ihr Herz zuständig.«

Ich entgegnete:»Sie müssen mich als Ganzes nehmen. Was wäre ein Hirn ohne den, der es trägt?«

«Ein Verdrängungsmechanismus, der sich nicht bewegen kann.«

«He, kommen Sie …«

Sie meinte ganz trocken:»Sie wissen, daß wir keine Zukunft haben.«

«Macht Sie das denn gar nicht traurig?«Es war ein Betteln in meiner Stimme.

«Wenn ich ehrlich bin: sehr!«sagte sie, nun sehr viel weniger trocken.»Aber ich werde nicht nach Deutschland zurückgehen, und Sie werden nicht nach Tainan umziehen. Stimmt doch? Und Brieffreunde wollen wir nicht sein, denk ich mir, oder? Da ist es besser, Schluß zu machen, wenn es schön ist, und nicht anzufangen, dem Unmöglichen nachzulaufen.«

Das war ein schrecklicher Gedanke, daß die Liebe tatsächlich der Geographie unterworfen ist. Dem Umstand von Berufen und Lebensorten. Und darum die Leute, die füreinander bestimmt sind, so selten zusammenkommen. Statt dessen heiraten die, die in derselben Firma arbeiten, in derselben Stadt leben, denselben Tanzkurs besuchen.