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Mercedes lachte laut auf und legte mir seine Hand auf den Schenkel. Er bat mich um Verzeihung. Dann sagte er:»Für die Kirche und die CIA ist der Simon viel zu gescheit. Oder denken Sie, daß die Leute dort noch eine meisterhafte Zeichnung von einer Stümperei unterscheiden können? Im Ernst, lieber Braun, was ich sagen wollte, ist das folgende: Sie haben ja gemeint, ich würde Sie an einen Mann erinnern, den Sie einst in Köln, als Sie Kind waren, kannten und den Sie den Allesforscher genannt haben. Nun gut, mag ja sein, daß ich dem alten Knaben von damals ähnlich sehe, vielleicht einfach, weil ich jetzt selbst ein alter Knabe bin und sich im Grunde der eine Alte vom anderen Alten nicht wirklich unterscheidet. Was ich aber ganz sicher nicht bin, ist ein Allesforscher, ein Universalgelehrter. Ihr Sohn aber, Simon, er ist genau das. Mir scheint, daß er sich für alles interessiert, alles durchleuchtet. Darum auch zeichnet er. Das ist eine konservative, aber immer noch praktikable Methode, den Dingen auf die Spur zu kommen. Ich sage nicht, er ist ein Außerirdischer, aber wäre er einer, wäre es da nicht auch viel klüger, als Kind daherzukommen und nicht wie ein blöder Tourist mit einer Handykamera alles abzufotografieren?«

Simon als Allesforscher? Als der neue Allesforscher? Also nicht etwa als Reinkarnation des Mannes, den ich einst in Köln so geliebt hatte und der mir soviel mehr Vater gewesen war als mein eigener Vater, sondern eben ein Kind, ein Mensch, der in der Tradition der Allesforschung stand.

Ich gestehe, mir gefiel die Vorstellung, mir Simon als Allesforscher zu denken und weder als geistig behindert noch als absonderlich genialen Grenzfall, gleich diesen Leuten, die sich niemals im Leben ein Frühstück zubereiten können, aber unglaubliche Algorithmen im Kopf ausrechnen. Simon konnte durchaus ein Frühstück zubereiten, und zwar genau so, wie man es sich bei einem Neunjährigen vorstellte. Er putzte seine Zähne schlampig und wollte im Kino den neuesten Ice-Age-Film sehen und nicht etwa die Godard-Retrospektive besuchen, er konnte weder die Lottozahlen voraussehen noch mittels seiner Gedanken Menschen Nasenbluten bereiten, aber es stimmte, sein Blick auf die Welt war genau und umfassend, und seine Zeichenkunst — die abstrakte wie die konkrete — ein Hinweis auf sein Studium der Welt, die sichtbare wie die unsichtbare.

Er war ein Allesforscher und war dennoch ein Kind.

Ich sagte zu Mercedes:»Ich denke, Sie haben recht.«

«Ich helfe, wo ich kann«, meinte der verdiente Messerwerfer, schaute nun auf seine Uhr und äußerte:»Wir müssen los! Damit sich alles ausgeht.«

Also nahmen wir das steile Schlußstück in Angriff und stiegen in kurzen Serpentinen nach oben zur Hütte. Die Wolkendecke war aufgebrochen und die Blaue Periode als Fragment sichtbar geworden.

Oben am Gebäude standen viele im Freien und genossen die Sonnenstrahlen. Man ahnte auch hier, daß diese» Beruhigung«, diese Erschöpfung eines wahnsinnig gewordenen Wetters nicht lange anhalten würde. Niemand wollte es riskieren, nach unten ins Tal zu marschieren. Die einzigen, die hier etwas riskierten, waren wir selbst, nur um einen Hund abzuholen.

Wir wurden vom Hüttenwirt empfangen, der uns an die Theke einlud und eine Flasche Schnaps öffnete. Wir hoben die gefüllten Gläser, die wie kleine durchsichtige Tulpen zwischen unseren Fingern baumelten, und stießen an.

Da sich die meisten Leute jetzt draußen befanden und ein himmlisches Bruchstück bewunderten, war es hier drinnen verhältnismäßig leer und ruhig. So konnte ich das anrückende Geräusch vernehmen. Es war ein Tappen. Viele kleine Schritte. Als würde gerade eine Gruppe Zwerge von der Arbeit heimkommen.

Es waren aber keine Zwerge. Es war ein Hund, der sich langsam näherte, in kleinen Kurven, so daß man ihn von beiden Seiten sehen konnte. Er war mittelgroß, hellgrau, mit kurzem, struppigem Fell. Irgend jemand hatte mit roter Farbe je ein Kreuz rechts und links auf sein Fell gesprüht, in Form eines X. Als wären seine Flanken Zielscheiben. Aber das war nur ein dummer Gedanke. Niemand würde den Hund der Tulfeinalmchefin als Zielscheibe verwenden. Die Kreuze waren wohl als Markierung gedacht, damit man das Tier im Schnee besser sehen konnte.

Er knurrte nicht und wedelte nicht, sondern war in einem kurzen Abstand zu uns erstarrt. Er hatte grüne Augen und kleine Ohren und eine Schnauze, die dunkler war als der Rest von ihm. Wären die Kreuze nicht gewesen, hätte man ihn für einen sehr durchschnittlichen Mischlingsrüden halten können.

Einen Moment dachte ich daran, daß solche Kreuze nicht zuletzt auch auf chemischen Produkten zu sehen waren, um dort auf eine Gefahr hinzuweisen. — Hatte man diesen Hund angemalt, um vor ihm zu warnen? War er verflucht, oder war er der Fluch? (Stimmt, besagtes Kreuz als Gefahrensymbol ist Schwarz auf Orange, dieses Hundekreuz aber war Rot auf Hellgrau. Doch vielleicht hatten sie einfach kein Orange und kein Schwarz mehr gehabt, vielleicht …)

Ich sagte mir:»Hör auf zu spinnen.«

«Ein Andreaskreuz«, erklärte Mercedes, der sich als Messerwerfer — und wie er einmal gesagt hatte, als» christlicher Messerwerfer«— mit zielartigen Symbolen gut auskannte.

«Welcher Andreas?«fragte ich.

«Der Apostel, einer der Fischer. Als man ihn kreuzigte, hat man das auf schrägen Balken getan. Und dann ging der Name des Gekreuzigten auf das Kreuz über.«

Mercedes schaute hinunter zu dem Tier und redete mit ihm in jenem leicht vertrottelten Ton, den Menschen gegenüber Vierbeinern gerne anschlagen:»Heißt du Andreas, mein Guter?«

Der Hund kam und strich im Stil einer Katze mit dem Kopf gegen die Beine Mercedes’. — Nun, das hätte er vielleicht auch getan, hätte man irgendeinen anderen Namen gewählt. Doch Auden, der den Hund natürlich kannte, erklärte, der Hund heiße tatsächlich Andreas.

Ich sah Mercedes an und sagte:»He, Sie wußten das vorher schon!«

«Nein, wußte ich nicht. Es war nur so ein Gefühl.«

Ich fragte mich, ob dieser Mann, der mich zumindest optisch an den Allesforscher meiner Kindheit erinnerte, ob dieser Mann ein Lügner war. Denn obgleich er wie ich selbst am Tag zuvor das erste Mal in die Hütte der Tulfeinalm gelangt war, so hatte er von seiner Frau sicherlich vieles über diesen Ort und jene Chefin erfahren. Und dabei auch gehört, es existiere ein Hund namens Andreas. Andererseits wirkte Mercedes jetzt absolut aufrichtig, seinerseits erstaunt, den Namen des Hundes erraten zu haben. Wobei» erraten «das falsche Wort war. Mercedes hatte kombiniert und hatte eben richtig kombiniert. Verwunderlich war es dennoch. So verwunderlich wie der Umstand, daß er mir im Traum prophezeit hatte, ich würde demnächst als Geburtshelfer fungieren. — Konnte es sein, daß der Messerwerfer genau das war: ein Prophet? Freilich ein unbewußter.

Simon als Allesforscher und Mercedes als Prophet?

Passenderweise konnte ich später feststellen, daß der Hund, der Andreas hieß, den Leuten auf der Tulfeinalmhütte wirklich als eine Art Märtyrer galt. Mit dem Hang, in brenzlige Situationen zu geraten. Obgleich er eigentlich als Rettungshund ausgebildet worden war, war er eher ein Hund, der seinerseits des öfteren gerettet werden mußte. Die Kreuze auf seinem Fell waren darum auch dahingehend zu deuten, daß man dank ihrer den Hund besser finden konnte, wenn er wieder einmal verlorengegangen war. Andreas war ein Lawinenhund, der gerne in Lawinen geriet. Ob das nun allerdings wirklich das Martyrium war, für das dieser Hund stand, blieb doch recht unklar. Aber Unklarheit ist ohnehin die Krönung jeglicher Religion.

Wir tranken aus, und Auden und Mercedes gingen noch mit dem Wirt mit, um ein paar Lebensmittel zu holen, die für die Chefin bestimmt waren.

Ich selbst begab mich auf die Toilette, der Andreashund an meiner Seite. Dabei geriet ich in einen langen Flur, wo auf Gesichtshöhe gerahmte und verglaste Fotos aneinandergereiht hingen. Das Übliche: Bilder von Bergsteigern und Bilder von Hüttenfesten und Bilder von Gipfelkreuzen — alte Schwarzweißfotos und auch nicht mehr ganz junge Farbabzüge (manche Farben so blaß, als wären sie weniger einem Alpinismus als einem Albinismus erlegen). Die jüngsten Bilder waren vor einigen Jahren entstanden, das älteste kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Auf vielen davon die Unterschriften der im Foto Verewigten.