Das Ganze hätte ein wirklich schönes Rechenbeispiel ergeben, alle einwirkenden Kräfte und Distanzen und Gewichte berücksichtigend, denen zu verdanken war, daß ich nicht gleichzeitig von einem Stahlpfeil in der Brust und einem Stück Walfleisch am Kopf getroffen wurde, sondern völlig unbeschadet blieb.
Ich schaute hinüber zu Astri. Zu meiner hellsichtigen Schwester, die einmal behauptet hatte, nicht in die Zukunft der Träume sehen zu können. Aber eine Ahnung mußte sie gehabt haben und hatte deshalb also darauf bestanden, von Mercedes das Messerwerfen zu erlernen. Sie selbst wäre nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig bei mir zu sein, mich umzuwerfen, aus der Zielbahn zu befördern, mich zu retten. Mit dem Messer aber war es gelungen.
Ich wollte ihr etwas zurufen. Aber sie war verschwunden. Verschwunden wie der Wal und der Zehn-Millionen-Mann. Ich würde sie alle nie wiedersehen.
Als ich erwachte, war ich in keiner Weise erschöpft oder erledigt, sondern fühlte mich ausgesprochen frei. — Keine Frage, es ist pure Phantasie, purer Blödsinn zu meinen, wäre ich jetzt im Traum gestorben, hätte dies auch bedeutet, im wirklichen Leben zu sterben. Natürlich nicht. Es war etwas anderes, das sich auswirken würde: Es war die Rettung.
Astri hatte mich gerettet, vorausschauend, klug und mit größtem Geschick. Und dies hatte durchaus eine Folge für mein Leben. Ohne ihr Eingreifen wäre ich in einen Kreislauf von erschöpfenden Alpträumen geraten. Diese Rettung jedoch beruhigte meine Traumwelt und pflanzte sich in mein Wachsein fort.
Es gibt sie, die guten Geister.
Drei Tage später hörte der Schneefall endgültig auf, es wurde wärmer, es taute, und die von der sogenannten Außenwelt abgeschnittenen Täler und Berge fanden wieder Anschluß an das Leben der Hauptorte. Straßen wurden frei geräumt und freigegeben und ein paar Leute ins Krankenhaus gebracht.
Auch Clara mußte zum Arzt, saß aber bald wieder an ihrem Steinway-Flügel und spielte 825 — nun wieder in der traditionellen Reihenfolge.
Andreas wurde unser Familienhund. Denn so leicht es Simon gefallen war, auf Sonja zu verzichten, so traurig wurde er, als ich ihm erklärte, daß wir den Hund nicht mitnehmen könnten. Simon versuchte mir deutlich zu machen, sich um den Hund kümmern zu wollen und stets darauf zu achten, die Farbe der beiden Kreuze zu erneuern, quasi den Hund frisch anzustreichen. Er meinte das ernst. Er wußte, daß Andreas ohne Kreuze nicht der gleiche war und daß davon auch dessen Unversehrtheit abhängen konnte. Indem die rote Farbe eben immer gut sichtbar blieb und nicht etwa im Zuge von Wind und Wetter verblaßte.
Ich redete mit der Chefin. Sie ließ sich ein wenig bitten, gab dann aber relativ schnell nach. Wahrscheinlich hatte sie ohnehin schon begriffen gehabt, wie sehr dieser Hund und dieser Junge zusammengehörten. Allerdings sagte sie:»Mein Chinese bleibt aber!«
«Auden?«
«Ja, ohne ihn ist die Küche nichts wert.«
Ich versicherte ihr, bei aller Sympathie für Auden diesen ganz sicher nicht mit nach Stuttgart nehmen zu wollen. Allerdings geschah es, daß Auden uns wenig später — denn die Hütte auf der Tulfeinalm hatte zwischen Oktober und Dezember geschlossen — von selbst in Stuttgart besuchte. Er kam sogar zu mir ins Bad Berg und schwamm einige Runden im heiligen Wasser. Die Damen dort waren begeistert, sie erklärten, noch nie einen so hübschen, vornehmen und charmanten Asiaten kennengelernt zu haben. Wobei ich mit einigem Erstaunen feststellte, daß Auden sich in sehr beredter Weise mit den Bergianerinnen über Kosmetik unterhielt und ihnen Tips gab, die sie alle versprachen zu befolgen.
Eine von ihnen meinte:»Aber schwul ist er trotzdem nicht.«
Ob schwul oder nicht, er wurde unser Freund. Kerstins und Simons und meiner. Im Winter fuhren wir immer wieder nach Tirol und verbrachten unsere Zeit in der Hütte, in der auch ohne Schneechaos und gesperrte Straßen weiterhin die Chefin regierte und Auden seine Knödel fabrizierte. Allerdings war er während unserer Aufenthalte auch viel bei uns in der Gaststube oder sogar auf der Piste, wenn wir gemeinsam zum Skifahren gingen. Abends wiederum spielte er mit Simon Go (wirklich nicht mein Ding). Dabei stellte es sich heraus, daß Auden es viel besser als jeder andere verstand, sich Simons Vokabular anzueignen. Auden merkte sich weit mehr Wörter und Betonungen und begriff die spezielle Syntax, vor allem aber erkannte er, wie sehr eine bestimmte Vokabel mittels einer Veränderung der Mimik auch ihre Bedeutung tauschte. So gab es für Gott und Teufel den absolut gleichen Begriff, der aber einmal mit offenen und einmal mit geschlossenen Augen gesprochen wurde, so daß sich mit einem Wort zwei Dinge sagen ließen. Was für viele Begriffspaare galt, mal nachvollziehbar, etwa bei Vater und Mutter, mal weniger, zum Beispiel im Falle von Tod, wo man sich natürlich als Gegenstück den Begriff Leben gedacht hätte. Aber das Zwillingswort zu Tod war Fernglas.
Jedenfalls lernte Auden die Sprache immer besser zu verstehen.
Hätte ich da nicht eifersüchtig sein müssen? Meine Position als Vater des Kindes in Gefahr sehend?
Nein, eher war es so, daß Auden sich verhielt, als wäre er mein Bruder, ein Bruder, der sich eben Zeit nahm für seinen Neffen und all die Lücken füllte, die zwangsweise auch ein noch so guter Vater hinterläßt. Aber es blieb dabei, daß Simon sich keinem Menschen mit derselben Zärtlichkeit näherte wie mir. Es kam mir so vor, als wäre ich ein lebendes Nest, in das er immer wieder flog und wo er zur Ruhe kam, in der Obhut eines Mannes, der im entscheidenden Moment — damals im Konsulat in München — »Ja «gesagt hatte. Manchmal verbindet ein Ja Männer und Frauen, aber es gibt auch ein Ja, das Kinder und Erwachsene verbindet, und dann kann sie nichts mehr trennen.
Das klingt schon sehr nach Idylle. War es ja auch. Allerdings hatte ich mit Kerstin so meine Schwierigkeiten und sie mit mir. Sie spürte, daß sie nicht die Frau meines Lebens war, wie es Lana gewesen war, und einmal drohte sie, etwas mit Auden anzufangen. Aber mir war klar, daß sie auch für Auden nicht die Frau seines Lebens sein würde. Daß Auden in dieser Hinsicht ganz in der Vergangenheit lebte und nichts unternehmen würde, seiner Vergangenheit ein Jetzt gegenüberzustellen.
Er war ein Mönch (ein Bruder).
Ich war ein ewiger Bademeister (und einmaliger Geburtshelfer).
Kerstin die Gegenwart.
Simon die Zukunft.
Andreas ein Kreuz.
Letztes
Sie hören jetzt nicht Schönberg,
sondern Schubert,
und es spricht der Autor
Der Titel des vorliegenden Romans ist eine Wortschöpfung. Sie stammt von meinem Sohn. Unzufrieden mit dem Begriff des Universalgelehrten, fragte ich ihn vor einigen Jahren, wie er eine solche Person bezeichnen würde. Er antwortete prompt:»Allesforscher«. Ebenso prompt war ich in dieses frisch geborene Wort verliebt und wußte auch bald, daß es in die Welt gekommen war, um mir als Romantitel zu dienen. Fehlte noch der Roman. Der kam später. Ein Roman, der im Gegensatz zu meinen bisherigen Büchern weder in einem Stück geschrieben wurde noch in seiner ursprünglichen Fassung erhalten blieb. Vielmehr unterlag er einem mehrmaligen Wandel im Kleinen wie im Großen. Einem Wandel, der ihm, wie ich glaube, gutgetan hat. Wie es guttut, ein paar Kilo abzunehmen und dann wieder ein paar Kilo zuzunehmen, aber nicht dieselben, die man zuvor verloren hat. So ergibt sich, daß man nachher zwar ein fast identisches Gewicht besitzt, aber sehr viel besser und gesünder und frischer aussieht.
Daß die neuen Kilo dieses Romans andere und bessere sind als die alten, habe ich mehreren Personen zu verdanken, die mir beratend zur Seite standen, gleich den Trainern in Fitneßstudios, die aufpassen, daß man beim Sport nicht krank und krumm wird.