Alexander Beljajew
Der Amphibienmensch
Übersetzt von Nelly Sergejewa
Der Meerteufel
Die schwüle Januarnacht des argentinischen Sommers brach herein. Sterne erglänzten am tiefdunklen Himmel, Die „Meduse“ lag reglos vor Anker. Kein Wellenschlag, kein Knarren der Takelage unterbrachen die Stille der Nacht. Auch der Ozean schien in tiefstem Schlafe.
An Deck des Schoners lagen die halbnackten Perlenfischer. Erschöpft von der Arbeit und der sengenden Sonne, wälzten sie sich stöhnend im schweren Halbschlaf. Traumtrunkene Angstschreie zerrissen hin und wieder das nächtliche Schweigen. Krampfhaft zuckten Arme und Beine der Schlafenden. Sie mochten wohl von ihren Feinden träumen — den Haifischen. Die brütende Hitze dieser Tage entkräftete die Männer so sehr, daß sie nach beendetem Fang nicht einmal mehr imstande waren, ihre Boote an Deck zu hieven. Das schien auch nicht notwendig. Keinerlei Anzeichen deuteten auf einen Wetterwechsel hin. Vertäut an der Ankerkette, blieben die Boote nachtsüber auf dem Wasser.
Die Rahe waren nicht ausgerichtet, das Takelzeug schlecht aufgezogen, der nicht abgeräumte Klüver erbebte kaum merklich unter einem leisen Windzug.
Das Deck war mit Bergen von Muschelschalen überschüttet, mit Bruchstücken von Korallenkalksteinen, Seilen, an denen sich die Taucher herablassen, mit Leinwandsäckchen für die Muschelfunde. Dazwischen lagen leere Fässer herum.
Neben dem Besanbaum stand eine große Tonne mit Trinkwasser, daneben hing angekettet eine blecherne Schöpfkelle. Verschüttetes Wasser bildete einen dunkelschimmernden Fleck neben der Tonne.
Hin und wieder erhob sich einer der Fischer, taumelte im Halbschlaf über Arme und Beine, schleppte sich stolpernd zum Wasserfaß. Gierig trank er aus der Schöpfkelle und sank gleich wieder, wie in schwerem Rausch, schlafend nieder.
Die Taucher quälte der Durst. Wegen des hohen Wasserdrucks vermieden sie es, vor Arbeitsbeginn etwas zu essen. So fischten sie bis zur einfallenden Dämmerung mit nüchternem Magen Perlen. Ihre einzige Mahlzeit erhielten sie abends vor dem Einschlafen: Pökelfleisch!
Nachtwache hatte der Indianer Balthasar, Er war der Erste Gehilfe von Kapitän Pedro Surita, dem Eigentümer des Schoners „Meduse“.
In seiner Jugend war Balthasar ein bekannter Perlenfischer gewesen: Er konnte 90 und sogar 100 Sekunden unter Wasser bleiben, doppelt so lange wie die anderen.
„Warum? Weil man zu meiner Zeit das Tauchen noch richtig lernen mußte, schon von Kindheit an“, erzählte Balthasar den jungen Perlenfischern. „Schon mit zehn Jahren gab mich mein Vater in die Lehre auf den Tender zu Jose. Er hatte zwölf Jungs in der Lehre Und tauchen lernten wir so: Jose warf einen weißen Stein oder eine Muschel ins Wasser und befahclass="underline" ,Tauch! Bring! Tauche wieder!‘ Fanden wir nichts, verprügelte er uns mit einem Tau oder einer Peitsche und warf uns wie einen Hund ins Wasser. Dann gewöhnte, er uns, länger unter Wasser zu bleiben. Der alte erfahrene Perlenfischer ließ sich auf den Grund hinab und band einen Korb oder ein Netz an den Anker: ,Solange du nichts losgebunden hast, darfst du dich oben nicht blicken lassen. Zeigst du dich, setzt es Prügel!‘ Man schlug uns unbarmherzig. Wenige nur hielten aus, aber die konnten dann tauchen! Und ich wurde der beste Perlenfischer im ganzen Bezirk. Und verdiente viel Geld!“
Im Alter gab Balthasar seinen gefährlichen Beruf auf. Die Zähne eines Haifisches hatten sein linkes Bein verstümmelt, die Ankerkette seine Hüfte zerfetzt. In Buenos Aires unterhielt er einen kleinen Laden und handelte mit Perlen, Korallen, Muscheln und allerlei Raritäten aus der Tiefe des Meeres. Aber da sich Balthasar zu Lande langweilte, ging er noch immer ziemlich häufig auf Perlenfang, Niemand kannte besser als er die Ufer des Rio de la Plata und die Muschelplätze. Die Perlenfischer achteten ihn, Er verstand es, allen gefällig zu sein.
Den jungen Perlenfischern brachte er die Geheimnisse ihres Berufes bei: Den Atem richtig anzuhalten, die Angriffe der Haifische abzuwehren und — unterderhand — auch, wie man eine seltene Perle vor dem Chef verstecken kann.
Die Schiffseigner schätzten besonders seine Fähigkeit, die Perlen mit unfehlbarem Blick zu taxieren. Darum nahmen sie ihn gern als Gehilfen und Berater mit.
Balthasar saß auf einem Faß und rauchte langsam eine dicke Zigarre. Das Licht der am Mast befestigten Lampe erhellte sein Gesicht. Es war länglich, mit flachen Wangen, einer geraden Nase und großen, schönen Augen — das Gesicht eines Araukaners. Schwer senkten sich Balthasars Augenlider. Er döste. Aber seine Ohren schliefen nicht. Selbst im tiefsten Dämmern waren sie wachsam angespannt.
Aber augenblicklich vernahm Balthasar nur das Seufzen und Murmeln der Schlafenden. Vom Ufer herüber zog Gestank zur „Meduse“. Um die Perlen leichter ausnehmen zu können, ließ man die Muscheln erst verfaulen.
Nach dem Ausnehmen der Perlen wurden die größten Muscheln auf die „Meduse“ verladen. Surita verkaufte sie an eine Fabrik, die daraus Knöpfe und dergleichen herstellte.
Balthasar schlief und träumte. Die Zigarre entfiel seinen erschlafften Fingern. Der Kopf sank auf die Brust. Aber plötzlich drang irgendein Laut in sein Bewußtsein, der fern vom Ozean herüberwehte. Lauschend öffnete Balthasar die Augen. Nun tönte es wieder, in größerer Nähe. Es schien der Wohlklang eines Horns zu sein, begleitet von einer kräftigen jungen Stimme: „Ah!“ Und dann eine Oktave höher: „Ah-ah!“
Für Balthasar, der sich in Schiffssirenen auskannte, war dieser übermütige Ruf neu und unbekannt. Er erhob sich. Die Schwüle schien ihm plötzlich aufgefrischt. Er trat zur Reling und spähte über das glatte Meer. Stille. Balthasar weckte mit einem Fußtritt den neben ihm auf dem Deck liegenden Indianer und flüsterte ihm zu: „Der Ruf! Das ist wahrscheinlich ER.“
„Ich höre nichts“, erwiderte ebenso leise der Hurone, der knieend lauschte. Die Stille zerriß wieder durch den Aufklang des Horns und das „Ah-ah!“ Der Hurone duckte sich vor diesem Laut wie unter einem Peitschenhieb.
„Ja, das ist sicher ER“, meinte der Hurone, zähneklappernd vor Angst.
Auch die anderen Perlenfischer erwachten. Sie drängten sich auf dem von der Laterne erhellten Fleck, schienen vor der Dunkelheit im fahlen gelblichen Licht Hilfe zu suchen. Alle lauschten angestrengt. Ganz in der Ferne erklangen nochmals Horn und Stimme, verstummten dann.
„Das ist ER…“
„Der Meerteufel!“
„Hier können wir nicht länger bleiben!“
„Das ist schrecklicher als die Haifische!“
„Ruft den Kapitän!“
Man hörte das Schlurfen nackter Füße. Gähnend und seine behaarte Brust kratzend, erschien Pedro Surita auf Deck. Er war ohne Hemd, nur in Leinwandhosen, am breiten Ledergürtel hing die Revolvertasche, Surita ging zu den Fischern. Die Laterne beleuchtete sein verschlafenes bronzefarbenes Gesicht, sein dichtes zerwühltes Haar, das ihm in Strähnen in die Stirn fiel, die schwarzen Augenbrauen, den buschigen gesträubten Schnurrbart und einen kurzen angegrauten Bart.
„Was geht hier vor?“
Seine rauhe ruhige Stimme und seine gelassenen Bewegungen beruhigten die Indianer. Alle begannen durcheinander zu sprechen. Balthasar gebot mit einem Handzeichen zu schweigen und sagte:
„Wir haben SEINE Stimme gehört, die Stimme des Meerteufels.“
„Einbildung“, antwortete Pedro verschlafen, tief den Kopf senkend.
„Nein, keine Einbildung. Wir alle hörten das Horn und den Ruf, Ah-ahm, schrien die Fischer aufgeregt.
Balthasar unterstrich: „Ich habe es selbst gehört. Nur der Teufel bläst so das Horn. Niemand sonst auf dem Meer hat so eine Stimme. Wir müssen so schnell wie möglich fort von hier!“
„Märchen“, antwortete, immer noch träge, Pedro Surita. Er hatte keine Lust, die noch faulenden stinkenden Muscheln auf die „Meduse“ zu verladen und schon jetzt auszulaufen. Aber es gelang ihm nicht, die Indianer zu überzeugen, Aufgeregt gestikulierend, schrien sie drohend, daß sie gleich morgen früh die „Meduse“ verlassen und zu Fuß nach Buenos Aires gehen würden, wenn Surita nicht sofort die Anker lichte.