„Das heißt, Salvator empfängt auch Fremde?“
„Nur Indianer. Und die kommen von überallher zu ihm. Von Feuerland, vom Amazonas, aus den Wüsten Atakama und Asuncion.“
Nachdem Surita diese Auskunft von Balthasar erhalten hatte, beschloß er, nach Buenos Aires zurückzukehren. Dort erfuhr er, daß Salvator als Arzt bekannt ist, nur Indianer behandelt und unter ihnen als Wunderdoktor gilt.
Surita wandte sich dann, Auskunft suchend, an einige Ärzte, und erfuhr, daß Salvator ein talentierter, sogar genialer Chirurg sei, aber ein Mensch mit großen Absonderlichkeiten — wie viele hervorragende Leute. Unter den Wissenschaftlern der alten und neuen Welt sei Salvators Kunst bestens bekannt. In Amerika wurde er durch seine kühnen chirurgischen Eingriffe berühmt. Wenn die Erkrankung eines Patienten als hoffnungslos galt und die Ärzte es ablehnten zu operieren, wandten sie sich an Salvator. Niemals lehnte er ab. Auch in den schwierigsten Situationen wußte er Rat. Tausende von Menschen verdankten ihm ihre Rettung.
Seine ärztliche Praxis und erfolgreiche Grundstücksspekulationen verhalfen ihm zu einem riesigen Vermögen. Unweit von Buenos Aires erwarb er ein großes Grundstück, umgab es mit einer gewaltigen Mauer — eine seiner Absonderlichkeiten — und verzichtete fortan auf seine Praxis. Er beschäftigte sich in seinem Laboratorium mit wissenschaftlichen Arbeiten. Jetzt behandelte er nur noch Indianer, die ihn einen auf Erden wandelnden Gott nannten.
Surita gelang es, eine weitere Einzelheit über Salvator zu erfahren. Dort, wo sich jetzt der ausgedehnte Besitz befindet, stand einst ein kleines Haus in einem Garten, der ebenfalls von einer hohen Mauer umgeben war. Während Salvators Abwesenheit wurde das Anwesen von einem Neger und mehreren riesigen Hunden bewacht. Keinen einzigen Menschen ließen diese unbestechlichen Wächter in den Hof.
In der letzten Zeit hatte sich Salvator noch geheimnisvoller abgesondert. Nicht einmal seine früheren Universitätskollegen empfing er mehr bei sich.
Nachdem Surita das alles herausgebracht hatte, beschloß er zu handeln.
Er sagte sich: Wenn Salvator Arzt ist, hat er kein Recht, einen Kranken abzuweisen. Warum sollte ich nicht ein Leiden haben? Unter diesem Vorwand dringe ich zu Salvator vor.
Surita begab sich zum eisernen Tor, das den Zutritt zu Salvators Anwesen versperrte, und klopfte lange und ausdauernd an. Aber es wurde ihm nicht geöffnet. Wütend ergriff Surita einen großen Stein und hämmerte damit auf das Tor ein. Dabei verursachte er einen Lärm, der Tote hätte erwecken können. Weit entfernt hinter der Mauer ertönte Hundegebell. Endlich wurde das Guckloch in der Pforte ein wenig freigemacht.
„Was wollen Sie?“ fragte eine Stimme in gebrochenem Spanisch.
„Ich bin krank, öffnen Sie schnell“, antwortete Surita.
„Kranke klopfen nicht so“, entgegnete ruhig die Stimme hinter dem Guckloch. „Der Arzt empfängt nicht.“
„Er untersteht sich, einem Kranken die Hilfe zu verweigern?“ Surita erregte sich.
Die Klappe fiel ins Schloß, Schritte entfernten sich. Nur die Hunde bellten heftig weiter.
Nachdem Surita seinen ganzen Vorrat an Schimpfwörtern verbraucht hatte, kehrte er auf den Schoner zurück.
Sollte er sich über Salvator in Buenos Aires beschweren? Aber bei wem? Surita bebte vor Zorn. Vor Aufregung zerrte er so lange an seinem dichten schwarzen Schnurrbart, bis die Bartspitzen herabhingen wie die Zeiger eines Barometers bei fallendem Luftdruck.
Allmählich beruhigte er sich wieder und überlegte, was nun zu unternehmen wäre. Je weiter seine Überlegungen gediehen, desto häufiger wirbelten die sonnengebräunten Finger den zerzausten Schnurrbart nach oben. Das Barometer stieg.
Schließlich ging er an Deck und gab überraschend für alle den Befehl, die Anker zu lichten. Die „Meduse“ nahm Kurs auf Buenos Aires.
„Gut“, sagte sich Balthasar, „wir haben viel Zeit vertrödelt. Der Satan hol diesen Teufel zusammen mit dem Wunderarzt.“
Die kranke Enkelin
Die Sonne brannte erbarmungslos. Auf dem staubigen Weg, vorbei an fruchtbaren Weizen-, Maisund Haferfeldern, ging ein alter erschöpfter Indianer. Auf den Armen trug er ein krankes Kind. Es war in eine zerschlissene Decke gebettet, die vor den sengenden Sonnenstrahlen schützen sollte. Die Augen des Kindes waren halb geöffnet. An seinem Hals wucherte eine große Geschwulst. Von Zeit zu Zeit, wenn der Alte stolperte, stöhnte es heiser auf und hob kurz die Augenlider. Der Alte hielt an, und besorgt fächelte er das Kind, um ihm etwas Kühlung zu verschaffen.
Wenn ich es nur lebend hinbringe, flüsterte er, seine Schritte beschleunigend.
Am eisernen Tor angelangt, nahm der Indianer das Kind in den linken Arm und schlug mit der rechten Hand viermal gegen die Pforte. Die Klappe öffnete sich ein wenig, ein Auge blickte durch den Spalt, die Riegel knarrten, es wurde geöffnet.
Der Indianer trat zaghaft über die Schwelle. Vor ihm stand ein alter Neger in einem weißen Arztkittel mit völlig weißem krausen Haar.
„Zum Arzt, das Kind ist krank“, sagte der Indianer. Der Neger nickte schweigend und bedeutete mit einer Bewegung, ihm zu folgen. Der Indianer blickte sich um. Sie befanden sich auf einem kleinen, mit Steinplatten belegten Hof. Eine Seite begrenzte die hohe Außenmauer, eine andere niedrige Mauer teilte den Hof von dem inneren Grund
stück ab. Kein Gras, kein Sträuchlein, wie ein richtiger Gefängnishof. Am Ende des Gevierts, am Tor der weiten Mauer, stand ein weißes Haus mit großen Fenstern. Neben dem Hause, auf dem Boden, lagerten Indianer, Männer und Frauen. Viele hatten Kinder dabei. Fast alle Kinder sahen vollkommen gesund aus, einige spielten mit Muscheln, andere balgten sich lautlos. Der alte, weißhaarige Neger wachte streng darüber, daß die Kinder nicht lärmten.
Der alte Indianer lies sich demütig im Schatten des Hauses nieder und hauchte das starre, bläulich angelaufene Gesicht des Kindes an. Neben ihm saß eine alte Indianerfrau mit einem dick geschwollenen Fuß. Sie betrachtete das auf den Knien des Indianers liegende Kind und fragte: „Deine Tochter?“
„Enkelin“, antwortete der Indianer.
„Der Sumpfgeist ist in deine Enkelin gefahren. Aber ER ist stärker als die bösen Geister, ER verjagt sie, und deine Enkelin wird wieder gesund.“
Der Neger im weißen Kittel machte bei den Kranken die Runde. Er warf einen aufmerksamen Blick auf das Kind des alten Indianers und deutete nach der Haustür.
Der Indianer trat in ein großes, fliesenbelegtes Zimmer. In der Mitte des Raumes stand ein schmaler langer Tisch, der mit einem weißen Laken bedeckt war. Eine weite, mit Milchglasscheiben versehene Tür öffnete sich und Dr. Salvator betrat das Zimmer.
Er war hochgewachsen, breitschultrig und brünett und trug einen weißen Kittel. Er hatte schwarze Augenbrauen und Wimpern, sein Schädel war kahlgeschoren und ebenso tief gebräunt wie sein Gesicht. Die ziemlich große, gebogene Nase, das etwas hervorspringende spitze Kinn und die fest zusammengepreßten Lippen gaben ihm einen wilden Ausdruck. Seine braunen Augen richteten sich kalt und durchdringend auf den Wartenden.
Der Indianer verbeugte sich demutsvoll und hielt das Kind dem Arzt entgegen. Mit einer raschen, bestimmten und doch vorsichtigen Bewegung nahm Salvator das kranke Mädchen aus den Armen des Indianers. Er entfernte die Lumpen, in die das Kind eingewickelt war, und warf sie geschickt in einen weit entfernt stehenden Behälter.
Der Indianer humpelte auf den Kasten zu, um die Lumpen wieder an sich zu nehmen, aber Salvator gebot ihm mit strenger Stimme: „Laß das, faß es nicht an!“
Dann legte er das Mädchen auf den Tisch und beugte sich tief zu ihm hinab. Er stand im Profil zum Indianer. Salvator tastete mit den Fingern die Geschwulst am Hals des Kindes ab. Diese Finger entsetzten den Indianer. Es waren lange bewegliche Finger, die sich in den Gelenken ebensogut auch seitwärts und nach oben wie unten zu biegen schienen. Der von Natur aus furchtlose Indianer bemühte sich, das Entsetzen zu überwinden, welches dieser unheimliche Mensch ihm einflößte.