Schultheiß überlief es kalt. Unruhig hieß im Krankenhaus, daß der Patient stirbt. Das Gesicht Sellnows verriet ihm alles, es war bleich und gezeichnet von der nagenden Sorge.
Wenn er stirbt, ist es in den Augen Worotilows ein Mord! Mord im Lager!
»Weiß es der Chef?« flüsterte Schultheiß.
»Er sitzt bei ihm am Bett. Der Darm arbeitet nicht, der künstliche After sondert nichts mehr ab - Temperatur 41, akute Herzschwäche.«
Sellnow biß sich auf die Lippen. »Wir müssen einen Geistlichen rufen. Haben wir einen im Lager?«
»Fünf evangelische Pastoren.«
»Nummer 4583 ist aber katholisch.«
»Gott ist überall, wenn man ihn braucht. Ich hole einen der Pastoren.«
Sellnow nickte. »Ich werde es dem Chef bestellen.«
Vor den Wäldern stand flimmernd die Luft, als Schultheiß auf den Lagerplatz trat. Sein Schritt wirbelte Staub auf. Die Posten auf den Wachttürmen standen im offenen Hemd und tranken Wasser. Auf dem Küchenplatz traf er Bascha im Gespräch mit Markow. Sie schien mit ihm zu schimpfen, denn sie drehte sich plötzlich um und zeigte ihm ihr fülliges Hinterteil.
An den Barackenwänden saßen die dienstfreien Gefangenen der Nachtschicht und genossen die Sonne. Im Schatten lausten sie ihre Hemden oder wuschen in Kübeln ihre Strümpfe und Wäsche. Karl Georg stand traurig in seinem Garten und betrachtete die ausgedörrte
Erde. Aus Worotilows Zimmer drang blecherne Radiomusik.
Trägheit des Sommers lag über der Erde. Schultheiß schloß einen Augenblick geblendet die Augen.
Einen Pfarrer. Der Oberfähnrich stirbt. Ob das Taschenmesser schuld war? Mord, hatte Major Worotilow gesagt. Mord, wenn er stirbt. Ihr alle seid dann Mörder ... ihr deutschen Schweine.
Und er stirbt. Warum schweigt Gott? Warum schweigt er jetzt? Gerade jetzt.?
Einen Pfarrer. Wir haben ihn alle nötig, wenn er stirbt.
Dr. Sergeij Basow Kresin kam über den Platz. Er faßte Schultheiß an den Schultern und rüttelte ihn.
»Was haben Sie?« brummte er. »Einen Sonnenstich? Sie sind ja ganz blaß, Sie schwanken! Was ist denn los.«
»Er stirbt!« schrie Dr. Schultheiß. »Ich muß einen Pfarrer holen.« Er ließ Dr. Kresin stehen und rannte die Lagergasse entlang zu Block IX.
Dr. Kresin sah ihm erstaunt nach, ehe er begriff.
»Einen Pfaffen!« sagte er verächtlich. »Wenn der Mensch versagt, kann auch Gott keine Frage beantworten.«
Er ärgerte sich über sich selbst, daß er Angst um Dr. Böhler hatte.
In dem kleinen Zimmer am Ende des Ganges saß Dr. Böhler, eine Spritze in der Hand. Sellnow stand schwitzend an der Tür und beobachtete das verfallene Gesicht des jungen Oberfähnrichs.
»Lassen Sie das Cardiazol weg, Chef«, knurrte er zwischen den Zähnen. »Wir werden es anderswo nötiger brauchen.«
»Ich habe noch 45 Ampullen aus dem alten Stalingrad-Lazarett.« Dr. Böhler blickte schnell zu seinem Oberarzt. »Sie haben ihn aufgegeben?«
»Ja. Er ist schon tot, nur sein Herz schlägt weiter, als könne es ohne Körper leben.«
»Ich glaube nicht an seinen Tod.« Dr. Böhler erhob sich und schob den Arm des Röchelnden zurecht. Unter der bleichen, fast gelblichen Haut erblickte er dick die Vene in der Armbeuge. »Solange das Herz mitmacht, gebe ich nicht auf!«
»Sie quälen ihn nur. Seinen Darm können Sie nicht retten! Seit fünf Jahren hat er nichts Richtiges zu verarbeiten gehabt ... er ist wie eine Wursthaut ohne Füllung, die zu lange in der Sonne lag.«
Dr. Böhler schüttelte stumm den Kopf und stieß die Nadel in die Vene. Vorsichtig zog er das Blut in die Glasröhre der Spritze, dann drückte er das Cardiazol in die Ader.
In der Tür stand plötzlich Dr. Kresin. Er hatte seine Tasche bei sich und stellte sich neben Dr. Böhler.
Sellnow lachte bitter. »Wo Aas ist, sammeln sich die Geier«, bemerkte er bissig.
»Keine Hoffnung?« fragte Dr. Kresin. Er überhörte die Bemerkung geflissentlich.
»Kaum.«
»Ein dritter Eingriff?«
Dr. Böhler erhob sich von dem Krankenbett und trat ans Fenster, das man mit einigen Lumpen verhangen hatte. Seine hagere Gestalt war nach vorn gebeugt.
»Ich habe viele Männer sterben sehen«, sagte er leise. »Es war mein Beruf geworden an der Front. Tausenden konnten wir helfen ... aber noch mehr starben, weil die äußeren Umstände sie sterben ließen -nicht wir, die Ärzte! Hätte ich hier einen richtigen Operationsraum, die richtigen Medikamente.«, er sah auf den fiebernden Oberfähnrich, »ich bekäme ihn durch.«
Dr. Kresin öffnete seine Tasche und warf den Inhalt auf den Tisch. Es war ein kleines, gepflegtes, modernes chirurgisches Besteck. Auch einige Ampullen Evipan lagen dabei, die Dr. Böhler ungläubig betrachtete.
»Sie haben Evipan.?«
»Ja!« Dr. Kresin lehnte sich brummend an die Wand. »Sie sehen es ja.«
»Und das sagen Sie mir erst jetzt?« Dr. Böhler drehte sich mit einem Ruck herum. »Seit drei Jahren habe ich hier das Lazarett, seit drei Jahren werfen Sie mir Knüppel zwischen die Beine, seit drei
Jahren operiere ich nicht, weil ich keine Betäubungsmittel und kein Besteck habe.!«
Dr. Kresins Gesicht war rot, er atmete schwer und schlug mit der Faust gegen die Holzwand. »Vergessen Sie nicht, daß Sie nur ein drek-kiger Gefangener sind!« sagte er grob. »Man sollte euch alle einfach verrecken lassen.«
»Und warum tun Sie es nicht? Warum dann so etwas?« Dr. Böhler wies auf das Instrumentarium.
Dr. Kresin stieß die Tür auf und trat hinaus auf den Gang. Über die Schulter hinweg brummte er halblaut: »Weil ich Sie für einen verdammt tapferen Arzt halte.«
Seine Schritte verhallten zum Ausgang hin. Sellnow sah ihm nach und schloß dann die Tür.
»Ein ausgesprochenes Edelschwein«, sagte er zornig. Er tastete nach dem Puls des Kranken und zuckte mit den Schultern. »Wollen wir wirklich noch einmal an ihm herumschnippeln?«
»Ja. Die dritte und letzte Operation.« Dr. Böhler legte die Hände flach an den Kopf, als spüre er ein heftiges Stechen in den Schläfen. »Wenn wir nur ein Infusionsgerät zur Bluttransfusion hätten«, sagte er langsam.
Dr. Schultheiß kam zurück. In seiner Begleitung befand sich ein kleiner, halbverhungerter Mann, dem das offene Hemd über der eingefallenen Brust schlotterte. Sein Gesicht, zerknittert, hohläugig, war erdgrau. Rissige Hände streckten sich den Ärzten entgegen.
»Der Pfarrer«, sagte Schultheiß leise.
Dr. Böhler drückte ihm die Hand. Die Innenflächen waren feucht, der Druck der Finger kraftlos, schlaff, weich wie Watte. Lungenkrank, dachte Dr. Böhler. Ich behalte ihn am besten gleich hier. Warum hat er sich nicht gemeldet.
»Ich werde noch einmal operieren«, sagte er halblaut. »Bitte, Herr Pastor, warten Sie hier auf uns. Wir werden Sie sehr, sehr nötig haben.«
Der Verhungerte nickte stumm. Langsam trat er an die Bahre und legte seine aufgesprungenen, vernarbten Hände fast zärtlich auf die
Stirn des Jungen. Dabei schloß er die Augen. Seine Lippen bewegten sich. Er schien zu beten.
Sellnow hatte die Hände gefaltet und starrte auf seine langen, schlanken Finger. Er war über seine eigene Ergriffenheit wütend. Da hat man jahrelang in den Lagern gehockt und Kohlsuppe gefressen und klitschiges Brot, man hat mit den anderen geschrien: Es gibt keinen Gott, wenn er Unschuldige derart leiden läßt, man hat geflucht, als der Winter kam und jeder dritte in Schnee und Sturm jämmerlich erfror, man hat sich vorgenommen, nie, nie mehr den Namen Gott zu nennen ... und da kommt so ein Pfaffe, so ein Halbverhungerter, und schon faltet man die Hände und betet.
Als Emil Pelz mit den beiden Trägern wieder ins Zimmer kam und sie den Pfarrer sahen, senkten sie den Kopf und falteten die Hände. Eine dünne Stimme, zitternd, gebrochen, stand im Raum:
»Es ist genug! So nimm, Herr, meinen Geist zu Zions Geistern hin;
Lös auf das Band, das allgemach schon reißt, befreie diesen Sinn,
Der sich nach seinem Gotte sehnet,
Der täglich klagt, der nächtlich tränet.