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Nun war Janina im Lager. Die todgeweihte Janina mit der kranken linken Lunge.

In ihren Augen stand die Weite der Wolga, die Sonne, die durch die Wälder bricht, das Lied der Schiffer, die auf flachen Kähnen den Strom hinab ins Kaspische Meer fahren. Die Schwermut der Elto-nischen Steppe lag in ihrem Blick, der hohe Himmel über den Jer-geni-Hügeln.

Sellnow sprach im Schlaf. Es war ein unverständliches Murmeln. Er schien heftig mit jemandem zu streiten. Sein Gesicht zuckte.

Wie klein werden die Sorgen, wenn Janina hier ist, dachte Dr. Schultheiß. 100 Gramm Brot weniger am Tag, und das Lager hat erst 230 Rubel gesammelt. Im Block 9 haben drei Kirgisen sieben Gefangene blutig geschlagen, weil sie beim Zählappell nicht schnell genug auf ihren Platz liefen. Es waren Männer, die eben erst von der Arbeit in den Wäldern kamen und mehr tot als lebendig auf ihre Strohsäcke sanken. Dabei kauten sie das feuchte, klebrige Brot, als enthalte es allein die Kraft, dieses Leben eines Tieres durchzustehen.

Das alles könnte man vergessen, weil Janinas Augen tief und geheimnisvoll wie die Steppe sind.

Es klopfte. Schultheiß fuhr herum und stürzte an die Tür. Emil Pelz stand auf dem Gang und grüßte.

»Sie sollen zur Lungenstation kommen«, sagte er grinsend. »Wir ham 'n neuen Patienten. Knorke, saje ick! Det is Klasse vom KuDamm!«

»Ich komme sofort.« Dr. Schultheiß lief ins Zimmer zurück und kämmte sich die Haare. Dann rieb er mit den Händen das Gesicht und die Wangen, um ein wenig Farbe in seine blasse Haut zu treiben. Ich sehe ja aus wie eine Leiche, dachte er. Aber sie soll mich so sehen, wie ich einmal war ... sie soll ein klein wenig davon sehen.

Dann lief er über den Gang, bog in den Seitenflügel ein und stand heftig atmend vor der Tür der Lungenstation. Von drinnen hörte er die dunkle Stimme Dr. Kresins. Möbel wurden gerückt, irgend etwas klapperte über den Boden.

Als er ins Zimmer trat, drehte sich Janina um und sah ihn lächelnd an. Ihre Augen sprachen zu ihm, aber der Mund blieb stumm, die Lippen waren dünn und farblos. Dr. Kresin unterdrückte einen Fluch und fuhr Schultheiß barsch an.

»Das ist ein Saustall, aber keine Lungenstation!« schrie er. »Hier soll Genossin Salja wohnen?! In diesem Loch?«

»Für die deutschen Gefangenen reichte es aus.« Dr. Schultheiß sah sich um. »Wir haben hier Licht, Luft und Sonne. Was noch fehlt, ist Ruhe. Und die zieht ein, wenn Sie weg sind.«

Janina Salja lachte leise. Das machte Dr. Kresin wehrlos. Er warf Schultheiß einen vernichtenden Blick zu und riß eines der Fenster auf. Der Blick über die Steppe und die nahen Wälder war herrlich. Nur ein Drahtzaun mit den Wachttürmen störte das friedliche Bild.

In einer Barackengasse hingen ein paar Unterhosen in der Sonne und trockneten. Sie waren grauweiß und durchlöchert.

»Wem gehört die säuische Wäsche?« schrie Dr. Kresin. »Ich befehle, daß ab sofort keine solchen Drecksdinger mehr im Freien getrocknet werden! Der Anblick ist ja scheußlich.«

Janina Salja winkte ab. Ihre kleine Hand war wie ein müder Schmetterling. »Es stört mich nicht.«

»Aber mich«, beharrte Dr. Kresin eigensinnig. »Die deutsche Bande soll Ordnung lernen.«

Dr. Schultheiß schluckte es, wie er alles in den Jahren der Gefangenschaft schluckte. Zwar wurden die Ärzte in allen Lagern und von allen Russen, vor allem aber von den Offizieren, höflich und besser behandelt als die Masse der anderen Gefangenen, die man in der ersten Zeit bis 1946 zusammenschlug, hungern und einfach in einer Ecke verrecken ließ oder zu Tode quälte. Aber die Ärzte bearbeitete man psychologisch, band ihnen die Hände durch Hunderte von Schikanen. Man warf ihnen dann Unfähigkeit vor, wenn sie wegen der technischen Mängel versagten. Man versprach den Gefangenenlazaretten volle Unterstützung, man pochte auf die Richtlinien des Internationalen Roten Kreuzes, aber man tat nichts, was wirklich helfen konnte, man sah über die Ärzte und Kranken hinweg, auch wenn ihre Wünsche so laut wurden, daß sie kaum mehr überhört werden konnten. Ein schmerzlicher Punkt war das Zurückhalten von Betäubungsmitteln. »Es besteht der Verdacht, daß Betäubungsmittel als Rauschgift verbraucht werden«, hieß es. »Für euch Deutsche ist der Holzhammer gut genug«, hatte Dr. Kresin, der Verwalter der Lazarettgruppe Stalingrad, Krassnopol und No-wotscherkask geantwortet, als Dr. von Sellnow um Morphium bat. Sellnow nannte ihn einen satanischen Sauhund und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Das brachte ihm 14 Tage Dunkelarrest bei halber Verpflegung ein, die er in seinem Haß gut überstand und zur Verwunderung aller noch wütender verließ.

Janinas sanfte Wärme machte Schultheiß rot und unsicher. Sie sah ihm ein wenig traurig in die Augen und fragte: »Was werden Sie jetzt mit mir tun?«

»Sie werden nur Ruhe haben müssen.«

»Dann bringen Sie vorher Worotilow um«, knurrte Dr. Kresin vom Fenster her.

»Er wird vernünftig sein müssen«, meinte Schultheiß entschieden.

Dr. Kresin lachte laut. »Zeigen Sie mir einen vernünftigen Bock! Wo er ein Weib sieht, muß er springen.«

Janina sah Schultheiß flehend an. Er las in ihren Augen Angst und Verzweiflung. Einen Augenblick war er versucht, den Arm um ihre schmalen Schultern zu legen und sie tröstend an die Brust zu ziehen, aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß er ja nur ein Plen-ni war und sie eine Russin, sogar eine hohe Funktionärin, die eine Uniform trug und einen hohen Orden auf der kleinen Brust. Er ließ die halberhobenen Arme sinken und wandte sich brüsk Dr. Kresin zu.

»Fräulein Salja wird alles bekommen, was für eine Kur notwendig ist ... wenn Sie es genehmigen.«

»An mir soll es nicht liegen.« Dr. Kresin lachte rauh. »Ein Gefangenenlager als Sommersanatorium. Das wäre eine schöne Geschichte für einen orientalischen Märchenerzähler. Verdammt, was ihr deutschen Ärzte alles fertigkriegt.«

Er lehnte sich aus dem Fenster und brüllte zwei Gefangene an, die zur Latrine schlurften.

Janina setzte sich auf den Stuhl und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Kommen Sie mich heute abend besuchen?« »Wenn Major Worotilow nicht bei Ihnen ist.«

»Ich werde sagen, ich sei müde. So müde.«

»Das sind Sie auch, Janina.«

»Ja, Jens.«

Dr. Schultheiß zuckte zusammen.

»Woher kennen Sie meinen Namen?« flüsterte er.

»Von Kresin. Ich fragte ihn danach.«

»Und warum?«

»Weil Sie so blaue Augen haben wie ich.« Sie senkte den Kopf und sah auf ihre Füße, die unruhig auf den Dielen scharrten. »Mein Vater hatte auch so blaue Augen. Wir wohnten an der Wolga, direkt am Fluß, und er hatte eine kleine Fischerei, zwei Boote, die die Fänge nach Saratow auf den Fischmarkt brachten. Er starb aus Kummer, als mein Bruder bei Orscha fiel. Wir haben nie sein Grab gefunden.« Ihre Stimme klang wie geborsten. »Der Krieg ist furchtbar für die Menschen, Jens. Er verbittert die Herzen und sät Haß, wo man lieben sollte. Ich bin so jung und habe nichts anderes gesehen als Krieg.«

»Wie alt sind Sie, Janina?«

»Einundzwanzig, Jens.«

»Wie herrlich jung, Janina.«

»Und doch wie alt. Ich habe immer nur Uniformen getragen . Jungbolschewistin ... Kaderführerin im Lazarett ... Partisanenmädchen. Das Ehrenkleid der Partei und der Armee. Ich habe nur Soldaten gesehen . eigene und deutsche. Ich bin russischer als Rußland. Glauben Sie, daß einundzwanzig Jahre alt ist?«

Dr. Schultheiß schaute auf sein Leben zurück, ob seine Erinnerungen anders aussähen. Aber auch er fand nur marschierende Füße, Uniformen und Kommandos, Fahnen und Standarten, Blechmusik und Heil-Rufe. Er wurde sich des Betruges an seiner Jugend bewußt, und er schwieg, weil er keinen Trost wußte, der Janina und ihn selbst hätte trösten können.

»Ich werde heute abend kommen, Janina«, sagte er leise.

»Ich werde Ihnen von meinem Essen etwas aufheben.« Sie sah ihn

an. »Sie sehen so hungrig aus.«

Er lachte etwas gezwungen. »Jetzt geht es. Der Körper gewöhnt sich an die halbe Kost. Zuerst, in den ersten Jahren, da haben wir uns des Nachts vor Schmerzen in den Därmen auf den Strohsäcken gewälzt und gewimmert. Da war eine Scheibe schimmeliges Brot ein Vermögen, um das man hätte morden können. Da aßen wir Schnee, nur um Typhus zu bekommen und in die Krankenstube geschafft zu werden, wo es einen halben Teller Kohlsuppe mehr gab. Bis man es bemerkte und uns einfach liegen ließ. Wir haben in diesen Jahren gesehen, was der Mensch aushält, wenn er eine Hoffnung hat, einen Glauben an das Morgen, den Willen durchzustehen. Jetzt« -er sah an sich herunter, an diesem langen, dürren, ausgemergelten Körper, an diesem Knochengerüst mit pergamentener Haut, gefüllt mit fünf Liter Blut -, »jetzt ist es nur Gewohnheit.« Er biß sich auf die Lippen. »Bis heute abend, Janina«, sagte er mit einer knappen Verbeugung. »Wenn es mir möglich ist.«