Auf dem Gang stand in ihrer Zimmertür die Kasalinsskaja. Sie rauchte eine türkische Zigarette. Der süßliche Rauch lag in Wolken über dem Flur. Ihre roten Lippen glänzten feucht.
»Ist das Vögelchen gefangen?« fragte sie gehässig.
»Es wäre gut, wenn Sie sich um sie kümmern würden, Doktor Ka-salinsskaja.« Schultheiß wollte an ihr vorbeigehen, aber sie hielt ihn am Arm fest und zog ihn ganz dicht zu sich heran.
»Janina ist in Sie verliebt«, sagte sie rauh. Ihre Augen sprühten. Sie glich einer Tigerin, sie war wie eine Bestie vor dem Mordsprung. Schultheiß kniff seine Augen zusammen.
»Sie träumen, Doktor. Ich bin nur ein Plenni.«
»Und es wäre gut, wenn Sie das nie vergäßen.« Alexandra warf ihre Zigarette weg und trat sie mit einigen wütenden Fußtritten aus. »Worotilow würde Sie erschießen«, sagte sie kalt.
»Er hat keinen Anlaß dazu.« In Schultheiß stieg heiße Angst auf. Er starrte die Kasalinsskaja an, sie erwiderte seinen Blick, und er las Eifersucht in ihm, Stolz, Lockung, Gier und zitternde Beherrschung.
»Ich werde mit Janina sprechen«, sagte sie halblaut. Ihre Stimme hatte den Klang einer Drohung. »Auch wenn Sie Arzt sind, Dr. Schultheiß, bleiben Sie ein Gefangener, den man zwischen den Fingern zerdrücken kann wie eine Laus. Gehen Sie.«
Gehorsam drehte sich Dr. Schultheiß um und ging seinem Zimmer zu.
Ein Satan! Ein Satan! Ein Satan!
Sein Herz schmerzte, in den Schläfen hämmerte das Blut. Er riß die Tür auf und warf sie krachend hinter sich zu.
Alexandra Kasalinsskaja lächelte.
»Du schöner Blonder.«, murmelte sie.
AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:
Wie gut ist die Nacht. Wie still, wie sanft, wie willig die Gedanken.
Ich sitze neben dem Bett des jungen Oberfähnrichs. Er schläft. Die dritte Operation hat sich bewährt. Der Chirurg hat nur eine kleine Stauung des Kotes in der Nähe des künstlichen Afters beseitigen müssen, die dem Kranken aber das Leben gekostet hätte, wenn nicht eingeschritten worden wäre. Noch immer fließt Eiter aus der Dränage des operierten Blinddarms. Aber der Puls ist besser. Dr. Kresin hat Traubenzucker und vor allem Strophanthin zur Verfügung gestellt. Das Herz des Kranken hat ausgezeichnet auf die Milligramm-Bruchteile des Herzmittels angesprochen.
Ich bewundere Böhler nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch. Immer ist er zurückhaltend und still, immer zur Stelle, nie erregt. Er ist als Arzt wagemutig und führt einen verbissenen stillen Kampf gegen den Tod, der hier allgegenwärtig ist. Er macht keine großen Worte. Wir alle haben sie verlernt, sind schweigsam geworden und geizig mit den Worten, die man früher so leichtfertig gebrauchte.
Ich bin getröstet, wenn ich an Böhlers Seite stehe und auf seine Hände sehe, in seine Augen, auf seine gerade Stirn, auf die schmalen Lippen, die zusammengepreßt sind und sich nur öffnen, wenn er sagt: der nächste ... dann möchte ich die Umwelt, in der wir leben müssen, vergessen und große Worte sagen. Was wären wir ohne ihn. Aus einem Nichts hat er dieses Lazarett geschaffen, hat er die beste Lungenstation aller Lager eingerichtet, chirurgische Taten vollbracht, die an den Mut der mittelalterlichen Ärzte erinnern. Mit einem Küchenmesser amputierte er 1945 ein gefrorenes Bein. Ich sehe ihn noch in der Baracke stehen, umgeben von einer Gruppe Männer, die zur Seite sahen und einige Öllampen hoch hielten. »Halten Sie den Mann fest«, sagte er zu den beiden Sanitätern. »Ganz fest! Ich schneide jetzt.«
Und der Amputierte schrie, bis ihn eine Ohnmacht barmherzig umfing. Wir hatten keine Betäubungsmittel.
Ich werde heute abend nicht zu Janina gehen können. Ich kann das Zimmer nicht verlassen. Um zwei Uhr in dieser Nacht muß Nummer 4583 die nächste Traubenzucker-Infusion erhalten.
Als ich einmal auf den Flur trat, sah ich von weitem unter ihrer Tür noch Licht hervorschimmern. Auch im Zimmer der Kasalinsskaja war noch Licht. Als ich in die Arzneikammer ging, hörte ich ihren Schritt unruhig im Zimmer hin und her tappen. Sie wartete, daß ich zu Janina gehe, um dann Worotilow zu rufen. Sie ist ein Teufel! Aber sie ist schön, gefährlich schön. Wenn ich an sie und Sellnow denke, habe ich eine zügellose Angst. Einmal wird es zu einer Katastrophe kommen.
Als ich von der Arzneikammer zurückkam, verklang ihr Schritt. Sicher lauschte sie. Dann öffnete sich die Tür des Krankenzimmers und sie blickte kurz hinein.
»Janina erwartet Sie«, sagte sie leise. Ihre Augen waren dunkel und gefährlich.
»Ich habe Nachtwache«, antwortete ich bestimmt. »Ich verlasse den Kranken nicht!«
»Soll ich für Sie die Wache machen?«
Ich schüttelte den Kopf und begann, die Spritze auszukochen, ohne mich um sie zu kümmern. Da schloß sie wieder die Tür. Auf dem Flur hörte ich das leise Klatschen ihrer Füße. Sie war barfüßig gekommen. Ich möchte wissen, warum sie so oft nachts in ihrem Arbeitszimmer bleibt. Das ist streng verboten. Auch für sie. Sie hat draußen zu schlafen, im Kommandantur-Gebäude!
Nachdem ich dem Oberfähnrich die Injektion gemacht hatte, schlüpfte jemand in mein Zimmer. Ich wagte nicht, mich umzudrehen ... ich spürte den Blick in meinem Nacken ... ich fühlte das heiße Schlagen meines Herzens. Mein Gott, mein Gott, warum muß das sein? Warum peinigst du uns so, uns, die armen, entrechteten, hungernden Plennis.
Janina kam an das Lager des Kranken und setzte sich an das verdunkelte Fenster auf den einzigen wackeligen Stuhl. Lange Zeit sprachen wir kein Wort.
Wir sahen uns nur an.
»Alexandra sagte mir, daß Sie Wache haben«, sagte sie dann. Ihre Worte waren wie ein leises Klingen gezupfter Saiten. Unter dem Saum des Kimonos sahen ihre nackten Beine hervor, mit den zierlichen, goldbestickten Astrachan-Pantoffeln. Sie war schlank wie ein Knabe, nur ihr Mund war weiblich - und ihre hellen Augen waren es, Augen, als seien sie aus der Wolga geschöpft.
»Ja«, sagte ich. Ein dummes Ja.
Dann schwiegen wir wieder und sahen uns an.
»Ich habe Sie den ganzen Tag nicht gesehen, Jens.«
»Ich hatte Dienst in den Baracken. Die wenigsten unserer Patienten sind so krank, daß sie ins Lazarett kommen. Jeder Block hat noch seine eigene Krankenstube - das Revier, wie wir Deutschen sagen -, dort verrichten Sanitäter den Dienst, und der wachhabende Arzt macht Visite.«
»Und Sie waren Wachhabender?«
»Ja.«
»Nicht Dr. von Sellnow?«
Ich schwieg und sah zu Boden. Ich schämte mich.
»Warum haben Sie mit Dr. von Sellnow getauscht, Jens?«
»Janina.«, sagte ich gequält.
»Sie sind feige, Jens.«
»Ich bin nur ein Kriegsgefangener, Janina. Ich gelte nichts.«
»Mir gelten Sie viel.« Janina stützte den Kopf in beide Hände und sah mich unentwegt an. Ich ertrug ihren Blick nicht und kümmerte mich um die Seitenöffnung des Patienten, wechselte den Mullberg.
»Ihnen vielleicht, Janina«, sagte ich dabei. Daß ich sie nicht anzuschauen brauchte und mit meiner Arbeit beschäftigt war, machte mich mutig. »Ich würde Ihnen gerne antworten, wenn ich ein freier Mensch wäre. Nicht eine Nummer in den Listen der Zentralgefangenenstelle in Moskau. Nummer 6724/19 - weiter nichts. Was wollen Sie von einer Nummer, die man ausradieren kann wie einen lästigen Punkt oder einen unvorsichtigen Klecks?«