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Janina Salja hob die Schultern. Ihre langen, dünnen Beine mit den Astrachan-Pantoffeln wippten. »Sie werden vielleicht bald frei sein, Jens. Hunderttausende Ihrer Kameraden sind schon wieder in Deutschland.«

»Aber Hunderttausende leben noch in den Lagern dies- und jenseits des Urals.«

»Auch sie werden einmal entlassen.«

»Dann ist unsere Kraft gebrochen, Janina. Dann sind wir nur noch atmende Gespenster. Es wird viele Jahre dauern, ehe wir uns wiederfinden, mehr Jahre, als wir hier in Rußland verloren haben. Wir Menschen sind eine zu eilige Arbeit Gottes . als er uns schuf, hat er versäumt, um unsere Seele eine dicke Hornhaut zu legen.«

»Sie sind verbittert, Jens.«

»Vielleicht. Vielleicht ist es nur Stacheldrahtkoller. Vielleicht sind es nur ungestillte Sehnsüchte. Vielleicht ist es das dumme Etwas, das man Heimweh nennt.« Ich stopfte den vereiterten Mullknäuel in einen Eimer und legte einen Deckel aus Holz darüber. »Könnten Sie ohne die Wolga leben, Janina?«

»Wenn ich einen Menschen liebte, mehr liebte als meine Wolga ... ja, Jens.«

»Das ist ein großes Wort.« Ich bettete den Oberfähnrich richtig und wusch ihm das Gesicht mit Wasser und den noch immer aufgequollenen Leib mit einer sterilen Lösung. Janina sah mir zu. Meine Hände waren ruhig, weit ruhiger als mein Inneres.

»Wir haben in der Schule viel von Deutschland gelernt«, sagte sie. »Nicht nur die Sprache - auch von eurer Kultur weiß ich, von eurer Landschaft, von euren Künstlern und Gelehrten. Ihr seid ein kluges Volk, aber eure Klugheit wächst über euch hinaus, und ihr ver-geßt, daß es andere Völker gibt.«

»Das hat man euch gelehrt. Wir lernten, daß alle Russen asiatisch verseucht seien und der ideologische Brandherd der Welt. Die Gelehrten, die diese Bücher schrieben und uns das lehrten, haben aber nie die Wolga oder den Don gesehen, die Steppe und Janina.«

Mit einem jähen Ruck stand sie auf und trat hinter mich. Ihre kleine Hand legte sich unerwartet hart auf meine Schulter.

»Ich könnte alle Deutschen hassen«, sagte sie leise.

»Warum, Janina?«

»Weil ich Sie kennenlernte.«

Die Hand lag noch auf meiner Schulter. Ich drehte den Kopf zur Seite und küßte ihre Fingerspitzen. Sie fuhr zurück, in ihre Augen trat Angst und eine wilde Gehetztheit... sie riß die Tür auf und lief über den Gang in die Dunkelheit davon. In der Ferne klappte eine Tür. Neben dem Stuhl, auf dem sie saß, lag eine Blume. Eine kleine Buschrose, blaß und schmächtig wie Janina, krank und halb verwelkt.

Wie gut ist die Nacht. Wie still, wie sanft, wie willig die Gedanken eines schmutzigen deutschen Kriegsgefangenen.

Ich glaube, daß Gott auch über Rußland blickt.

Gegen Mittag ging das Gerücht durchs Lager, ein politischer Kommissar aus Moskau habe den Gefreiten Hans Sauerbrunn verhaftet. Karl Georg und Julius Kerner, die dieses Ereignis miterlebt hat-ten, wußten in ihrer Verwirrung nichts anderes zu berichten, als daß Jakob Aaron Utschomi, der kleine jüdische Dolmetscher, mit dem Kommissar erschienen war und Sauerbrunn einfach mitgenommen hatte in die Kommandantur.

Der Kommissar Wadislav Kuwakino war ein mittelgroßer, untersetzter Mann mit einem Mongolengesicht. Seine Augen, weit auseinanderstehend und ein wenig geschlitzt durch die asiatischen Fettpolster unter den Lidern, blickten kühl und oftmals gelangweilt, als sei ihm die Welt das Ekelhafteste und der Mensch auf ihr überhaupt nicht wert, beachtet zu werden. Er senkte meist den Kopf, wenn er sprach, und sah auf seine langen, im Gegensatz zu seinem Körper dünnen Finger oder polkte mit dem Nagel der einen Hand unter den Nägeln der anderen.

Major Worotilow saß mit rotem Gesicht in seinem Zimmer. Unerhört, dachte er. Unerhört, wenn das wahr ist.

Piotr Markow grinste. Er betrachtete Hans Sauerbrunn wie ein Schlachtvieh und stellte sich vor, wie dieser Deutsche gequält in einem Straflager stöhnte. Kasymmskoje ... die Sümpfe ... Fieber, Mük-ken, Wölfe und morastiger Boden.

Man sollte diese deutschen Schweine ausrotten.

Hans Sauerbrunn stand mehr erstaunt als verängstigt vor dem großen Tisch des Majors und sah von einem zum anderen. Er trug sein Alltagskleid: die zerrissene Hose, ein offenes Hemd über der behaarten Brust, staubige Stoffschuhe mit Gummisohlen. An den Knien seiner Hose waren zwei runde, schmutzige Flecke . er hatte Karl Georg im Garten geholfen und sich in die Erde gekniet. Er wagte nicht, die Flecke abzuklopfen. Steif stand er vor dem Tisch und blickte Jakob Aaron Utschomi, den Dolmetscher, fragend an. Kuwakino, der Kommissar, polkte in seinen Nägeln. »Sie wissen die Frage, Utschomi«, sagte er russisch zu dem Dolmetscher. »Fragen Sie ... Genosse.«

Es fiel ihm schwer, zu dem kleinen, armseligen Juden Genosse zu sagen und ihn als seinesgleichen anzuerkennen. Aber er würgte es heraus, eingedenk der Ideologie, der er diente und die keine Ras-sen kannte und keine Hautfarben und keine Nationen, nur den Ruf der roten Fahne der Revolution.

Aaron Utschomi schluckte und sah Hans Sauerbrunn verzweifelt an. Er machte eine vergebliche Anstrengung, streng wie seine Vorgesetzten zu sein, aber er glitt wieder in sein eigentliches Wesen: schüchtern zu sein und sich zu ducken. »Sie wurden gefangen -wann?«

»Am 12. November 1942.«

»Wo?«

»In Stalingrad.«

»Das war ja vor der Kapitulation der deutschen 6. Armee?«

»Ja. Ich war so dumm, mich als Essenholer zu verirren. Ich lief mit 17 Kochgeschirren in die russischen Linien.«

»Sie verirrten sich nicht zufällig ... Sie wollten sich verirren?«

Hans Sauerbrunn sah Utschomi verblüfft an. Ehe er diese Auslegung seiner Gefangennahme begriff, nahm Major Worotilow ein wenig freundlicher das Wort. »Sie hatten wie wir alle den Krieg satt und liefen über, was?«

Sauerbrunn schüttelte heftig und ablehnend den Kopf. Der Gedanke, als Überläufer angesehen zu werden, erbitterte ihn maßlos. »So dämlich bin ich nicht!« sagte er laut und erregt. »Überlaufen! Zu den Russen!«

Piotr Markow schob die Unterlippe ein wenig vor. Dann schlug er mit der geballten Faust zu und traf Sauerbrunn zwischen die Augen. Der taumelte, Blut schoß aus seiner Nase und lief in einem dicken Strom über das Kinn, den Hals, in das offene Hemd hinein und färbte die dunklen Brusthaare hellrot.

»Aber nicht doch«, sagte Kommissar Kuwakino gemütlich und unterbrach das Polken an seinen Fingernägeln einen Augenblick. »Vergessen Sie doch nicht, Genosse Leutnant, wer das ist.«

Markow trat zurück. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut und tiefe Befriedigung. Er sah das Blut aus dem Gesicht Sauerbrunns rinnen und hätte jauchzen können, daß es deutsches Blut war. Er hatte das unheimliche Verlangen, dieses rinnende Blut zu trinken, um schreien zu können: »Ich fresse einen Deutschen.!«

Hans Sauerbrunn lehnte sich schwankend an die Tischkante, Major Worotilow warf ihm ein großes Taschentuch hin, das Sauerbrunn an die Nase drückte und dabei den Kopf weit in den Nacken zurücklegte. Jakob Aaron Utschomi war den Tränen nahe. Er schluckte mehrmals laut, ehe er weiterfragte.

»Wo sind Sie geboren?«

»In Berlin.«

Der Kommissar sah kurz auf. Seine Stimme war hell und scharf. Wenn er sprach, zuckten seine Augenwinkel, und die dünnen Lippen wölbten sich vor wie bei einem Lama, das im Begriff ist, zu spuk-ken.

»Das ist nicht wahrr!«

»Ich bin in Berlin geboren. Am 19. September 1915!«

»Nicht in München?«

»Nein.«

Hans Sauerbrunn versuchte, das durchblutete Taschentuch von der Nase zu nehmen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte die Nasenwurzel, als er den Kopf senkte. In den Schläfen stachen Millionen Nadeln. Ihm war übel, er hatte das schreckliche Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen - bis er sich sagte, daß sein Magen ja leer sei, weil er die Brotration schon am Morgen gegessen hatte und nun auf die Kohlsuppe des Mittagessens wartete.

»Was war Ihr Vater?«