Erstaunt setzte er sich.
»Dreihundert Rubel, tatsächlich«, sagte Major Worotilow. »Ich bewundere die Deutschen. Sie machen aus Dreck Geld! Wo haben Sie es her?«
»Das Lager hat es gesammelt.«
»Auf den Lagergassen liegen keine Rubel, die man sammeln kann. Wo kommt das Geld her?« Worotilow blickte auf den kleinen Berg der Scheine und Münzen. »Es ist erstaunlich, was man aus Kriegsgefangenen, die vier Jahre hinter Stacheldraht sitzen, die hungern und im Winter wie die Fliegen frieren, herausholen kann! Es ist unbegreiflich!« Worotilow sah Doktor Böhler lange in die Augen. »Was muß man tun, um euch Deutsche unterzukriegen? Es geht nicht durch Hunger! Nicht durch Frieren! Nicht durch Schläge! Nicht durch harte Arbeit! Nicht durch Strafen!«
»Warum wollen Sie uns unterkriegen?« Dr. Böhler nahm eine der Zigaretten, die ihm Worotilow anbot. Gierig rauchte er den süßen türkischen Tabak.
»Aus Prinzip!« Worotilow sah nachdenklich auf die Rauchwolken. »Im Herzen bewundern wir euch. Der Deutsche war oft der geschichtliche Lehrmeister der Russen.«
»Wie kann ein bloßes Prinzip - von dem Sie sprechen - solche Grausamkeiten erzeugen?«
»Weil die Grausamkeit die einzige Stärke ist, die wir euch Deutschen voraushaben. Eure gefühlvolle Seele, eure schöne Seele - wie Schiller sagt - steht euch im Weg, aus den geistigen Qualitäten die großen weltpolitischen Entscheidungen zu kristallisieren! Ihr habt einen König Friedrich gehabt, den ihr den Großen nennt. Er eroberte Schlesien ... was habt ihr jetzt davon? Ihr habt einen Bismarck gehabt, was ist geblieben von seiner Politik und seinem Geist? Ihr hattet einen Stresemann, einen Adolf Hitler ... wo sind sie? Was ist geblieben?« Worotilow lächelte sarkastisch. »Außer unseren göttlichen Künstlern hatten wir Russen nur die Grausamkeit. Zar Iwan . man nennt ihn den Schrecklichen. Zar Peter ... er ließ die Hüte auf den Köpfen festnageln, wenn sie nicht schnell genug vor ihm gelüftet wurden. Katharina - Elisabeth - Potemkin. Zar Godunow ... Demetrius. Ein Gebirge von Grausamkeit und Blut, Schrecken und Elend, Vergewaltigung der Seele und Knechtung der Freiheit. Aber immer blieb, unberührt, stark über Jahrhunderte Mütterchen Rußland, der singende Schwan des Ostens, die Wiege der Unendlichkeit. Europa ist degeneriert. Es stirbt an seiner Überzüchtung der Intelligenz, es frißt sich selbst auf durch seine der Kontrolle entgleitende geistige Potenz. Rußland ist jung geblieben, es mußte jung bleiben, weil Grausamkeit und Strenge die Jahrhunderte verwischten. Und die Welt gehört den jungen Völkern!«
»Das wäre nach Ihrer Auffassung die moralische Rechtfertigung der Weltrevolution.«
»Sie ist es, Doktor.«
Dr. Böhler drückte seine Zigarette aus und stützte den langen, schmalen Kopf in die rechte Hand. Mit der linken spielte er mit einigen Rubelstücken. »Sie haben bei Ihrer Geschichtsrechnung einen Fehler gemacht, Major«, sagte er sinnend. »Der Westen mag überkultiviert sein, verwöhnt und damit verweichlicht - aber er schafft kraft seiner Intelligenz auch die Abwehrmittel gegen eure Revolution der Ordnung. Wir haben etwas, das alle seelischen und körperlichen Reserven weckt und auch den Verwöhntesten zum Dulder werden läßt: das Vaterland! Der letzte Krieg war ein Kampf der Ideologien. Sie lagen an der Front, Major, weil Stalin oder Hitler -wir wollen nicht darüber streiten, wer - besessen von einem Gedanken war, festgekrallt in das Lustgefühl, mächtig zu sein. Der Machtvollste der Erde. Cäsar scheiterte daran, Alexander, Philipp II., Napoleon. Auch ich lag im Dreck, Millionen verbluteten für diese Idee -es ging ja nicht um ein Vaterland, es ging erst dann darum, als die Gegner an unseren Grenzen standen und in das Land fluteten. Aber da waren wir bereits ausgeblutet, ein Körper, der nur im Wege lag, und dessen Beseitigung eine Kleinigkeit war. Auch Ihre Weltrevolution ist nur ein Krieg der Idee -, und Sie tragen diese Idee jetzt in Länder, die keine Idee mehr entgegenzustellen haben, sondern nur ihr Vaterland! Das Höchste, Major! Da wird der Sanfte eine Bestie, wenn es um seine Frau, um sein Kind geht. Und daran werden Sie zerbrechen; an den Herzen der Völker! Ihr Rußland wird nicht bedroht - aber Sie bedrohen die Welt!«
»Wir befreien die Arbeiterklasse vom Kapital!«
»Was wäre der Arbeiter ohne das Kapital?«
»Ein freier Mensch unter der Obhut des Staates!«
»Mit anderen Worten: die Rolle des sogenannten Kapitalisten übernimmt der Staat! Glauben Sie wirklich, daß es besser ist, ein Mensch arbeitet unter einem Gremium staatlicher Direktoren, die eine Arbeitsnorm den erforderlichen politischen Zielen anpassen, als wenn er unter einem Mann arbeitet, der zwar das Vielfache des kleinen Mannes verdient, aber unabhängig ist und ein Mensch unter Menschen.«
Major Worotilow erhob sich. Steif stand er hinter seinem Tisch. »Sie sind noch immer ein Nazi!« sagte er scharf.
»Nein, ich bin nur ein Mensch. Ein Mensch, den Sie in der Hand haben, den Sie töten dürfen, weil Sie die Macht dazu haben! Ihre russische Grausamkeit, die alle Ordnung sprengt, wie Sie eben sagten. Ihre Idee von der Stärke! Und weil ich ein Mensch bin, ehre und liebe ich den Menschen in jeder Gestalt, wenn er mir menschlich gegenübertritt. Ich achte ihn, wie ich selbst geachtet werden möchte. Aus der Achtung voreinander wächst der Rhythmus des Lebens.«
Major Worotilow schwieg. Er schien nachzudenken. Über sein breites Gesicht zog ein Schimmer der Enttäuschung und Verblüffung. Dann wandte er sich um und ging im Zimmer hin und her.
»Ich schenke Ihnen die dreihundert Rubel, Dr. Böhler«, sagte er stockend. »Sie können mit Dr. Kresin in der Staatsapotheke von Stalingrad Medikamente damit kaufen.« Er hob die Hand, als Dr. Böhler etwas einwenden wollte, und sprach schnell weiter. »Aber nur unter der Bedingung, Doktor: Sie gehen eine Woche in das Außenlager 12.«
»Wenn ich nicht irre, ist das das Holzfäller-Lager.«
»Ganz recht. Dort werden Sie acht Tage leben. Nur als Arzt. Sie haben volle Freiheit. Sie können im Lager bleiben, Sie können mit in das Schlaggebiet ziehen, wie Sie wollen. Nach acht Tagen sprechen wir weiter.«
Dr. Böhler erhob sich. In seinen Augen lag hilfloses Erstaunen. »Was versprechen Sie sich davon, Major?«
»Eine Wandlung, Doktor.« Ein Zug von Grausamkeit und Härte grub sich in sein Gesicht. »Ich will Ihnen zeigen, wie durch Grausamkeit aus Ihrer edlen Seele, aus Ihrem Stolz ein winselndes Tier wird, ein Hund, der nicht zu bellen wagt, eine Maus, die neben dem Speck verhungert.«
»Wir sind wehrlos, Major«, sagte Dr. Böhler dumpf.
»Der Russe ist es seit Jahrhunderten.«
Dr. Böhler senkte den Kopf. »Ich gehe, Major.«
Lager 12. Die Wälder von Werchnjaja Achtuba und Srjednje Po-gromnoje. Stämme, wie sie fünf Männer nicht umfassen können. Urwald am Rande der Stadt.
In Srjednje Pogromnoje heulen noch die Wölfe durch die Nacht. Im Winter liegen sie am Waldrand und starren auf die Hütten der Arbeiter, gierig mit flackernden Augen. Aus ihrem roten Rachen quillt in Wolken der Atem der Mordlust.
Wenige Hütten bilden das Lager 12. Blockhütten mit steinbe-schwerten Dächern.
Ein drei Meter hoher Drahtzaun. Zwei kleine Wachttürme. Eine Stromleitung führt einsam durch die Steppe und den Wald zur Hauptleitung des Lagers 5110/47.
Hier leben 184 Männer. Plennis.
34 Russen. Verlaust, unlustig, fluchend, hungernd wie die Deutschen. Ein Feldwebel befehligt sie. Meist ist er besoffen und liegt in der Sonne, erbricht sich und schreit nach Weibern. Man geht an ihm vorbei und sieht ihn gar nicht. Er gehört zum Lager wie die Latrine und die kleine Sanitätsstation, die einmal im Monat von der Kasalinsskaja aufgesucht und rücksichtslos geräumt wird. Das ist eigentlich der schwärzeste Tag im Lager 12. Sonst geht das Leben in trostloser Dumpfheit weiter, die keine andere Regung aufkommen läßt als Essen, Trinken, Schlafen und auf die Latrine gehen.
Am Tage hallen die Wälder wider von den Axthieben und dem splitternden Fallen der Riesen. Ab und zu ein Verletzter, den ein Ast streifte oder dem ein Axthieb ins Bein ging. Dann streicht der Sanitäter Jod darüber und zuckt die Schultern. Dawai! Dawai!