Der Sanitäter Pelz sah ihn erstaunt an und ging dann wortlos hinaus.
»Und womit wollen Herr Stabsarzt operieren?« fragte Sellnow und machte nicht einmal den Versuch, den Hohn in seiner Stimme zu unterdrücken.
»Natürlich mit dem Messer, Herr von Sellnow«, antwortete Böhler ungerührt.
Sellnow hob die Hand mit einer Geste, die >wohl verrückt geworden< bedeuten konnte, dann besann er sich und ließ die Hand sinken. Er trat an Böhler heran und fragte heiser: »Mit welchem Messer?«
Böhler griff in die Tasche und zog dann die Hand wieder heraus. Als er sie öffnete, lag ein Taschenmesser darin. Ein gewöhnliches, altes zweiklingiges Taschenmesser, wie wir es alle als Jungen in billigen Geschäften kauften.
»Einer unserer Leute hat es mir gegeben«, lachte Dr. Böhler, »der gute Kerl hat verstanden, es vor allen Filzungen durch die Russen zu retten.«
Während wir den Gang entlanggingen, vorbei an den drei großen Zimmern, in denen über siebzig Kranke und Verletzte lagen, vorbei auch an den drei Zimmern, in denen die russische Ärztin, Dr. Alexandra Kasalinsskaja, arbeitete, stieß mich Sellnow an.
»Wer assistiert?« fragte er leise.
»Ich nehme an, Sie.«
»Ich habe keinen Mut mehr, Schultheiß. Mit einem Taschenmesser ein perforierter Appendix! Wenn ich jemals in die Lage kommen sollte, das im alten Deutschland zu erzählen, halten sie mich für einen wüsten Aufschneider. Mir ist lieber, Sie assistieren und ich mache die Narkose.«
»Aber ... ich habe nicht viel Übung, und es wird sicher schwierig werden.«
»Das wird weder sehr schwierig noch sehr langwierig«, prophezeite Sellnow düster.
Wir betraten den >Operationssaal<. Es war ein etwas größeres Zimmer mit einem weißbezogenen Tisch. Auf ihm lag schon der Patient Nummer 4583. Emil Pelz stand neben dem Tisch und sprach leise auf den Kranken ein. Als wir eintraten, kam er uns entgegen und sagte nur für uns verständlich:
»Puls klein und ziemlich schnell, Herr Stabsarzt, schwankt zwischen hundertzwanzig und hundertvierzig, sieht nicht jut aus!«
Dr. Böhler wandte sich den auf einem Tisch stehenden Waschschüsseln zu. Pelz half ihm aus der Jacke, und Böhler begann sich zu waschen.
»Legen Sie dem Patienten einen Sandsack oder was Sie sonst haben unter die rechte Hüfte«, sagte er, »und reinigen Sie das Operationsgebiet, Rasieren nicht vergessen.«
Sellnow war an den Kranken herangetreten und tastete behutsam mit beiden Händen die Gegend des rechten Unterbauchs ab. Der Kranke begann sofort vor Schmerz zu stöhnen. Sellnow ließ augenblicklich von ihm ab, sprach ein paar beruhigende Worte und trat dann ebenfalls an die Waschschüssel.
»Ich übernehme die Assistenz«, sagte er heiser vor Wut, »und machen Sie die Narkose«, fügte er zu mir gewandt hinzu. Mit heftigen Gebärden trug er sich grüne Schmierseife auf Hände und Unterarme auf, feuchtete sie an, griff sich aus einem Behälter eine Handvoll Sand und begann sich mit diesen primitiven Mitteln zu waschen. Pelz hatte die Instrumente, die für die Operation zur Verfügung standen, in einen Kessel mit Wasser gesteckt, der auf einem Petroleumkocher summte. Es war kläglich, was ich da sah: ein paar Gefäßklemmen, ein paar Stücke Draht, die zu Wundhaken zurechtgebogen waren, und das klägliche Taschenmesser, sonst nichts. Mich schauderte.
Plötzlich wurde mir siedend heiß. Ich trat zu Pelz, der das Operationsfeld gereinigt hatte und die Umgebung mit alten, zerschlissenen Baumwollfetzen abdeckte. »Mensch, Pelz«, sagte ich, »wir haben ja kein Nähmaterial, weder Catgut noch Seide.«
»Lassen Sie man, Herr Doktor«, grinste Pelz, »dafür ha ick schon jesorcht. Ick hab der Bascha, dem Küchentrampel, ihren seidenen Schal jeklaut und uffjerebbelt. Wir ham jetzt ein paar Kilometer prima Seidenjarn ... was wir für die Operation brauchen, kocht da drüben in dem Topp.«
Ich hatte eben das, was wir stolz unser Instrumentarium nennen durften, auf ein Tablett ausgebreitet und auf einen Stuhl neben den Operationstisch gestellt, als die Kasalinsskaja den >Operationssaal< betrat.
Ihre erdbraune Uniformjacke war über der Brust geöffnet und ließ die rote Bluse, die sie darunter trug, sehen. Die langen, schwarzen Haare hingen ihr auf die Schultern und die breiten Schulterstücke. Sie trug flache, dick besohlte Sportschuhe und Seidenstrümpfe. Außerdem rauchte sie eine süß duftende türkische Zigarette.
Sellnow trat auf sie zu und schrie sie an: »Was machen Sie denn hier?! Und auch noch rauchen, im Operationszimmer! Wohl verrückt geworden, was?!«
Die russische Ärztin sah Sellnow groß an und warf die Zigarette in den Eimer, der für blutige Verbände, herausgeschnittene Organe und andere Abfälle dienen sollte. Sie schob mit ihrer kleinen, etwas gelben Hand den Oberarzt zur Seite und trat zu Böhler, der, die gereinigten Arme vorsichtig vor sich hinhaltend, Pelz Anweisungen bei der Lagerung und beim Festschnallen des Patienten gab. Pelz bediente sich dabei alter Lederriemen und zerschnittener Koppel.
Die Kasalinsskaja blickte auf den Patienten und nickte.
»Appendizitis«, sagte sie. Sie besaß eine schöne Stimme. Dunkel, schwingend, eine Stimme mit Melodie. Ihre Lippen öffneten sich beim Sprechen, als sei jedes Wort ein Kuß, und in ihre Augen trat ein Glanz, der sie fast schön machte - wenn man vergessen konnte, daß sie die Ärztin war, die jede Woche von Außenlager zu Außenlager fuhr und dort rücksichtslos die Männer in die Wälder, Steinbrüche, Bergwerke und auf die Bauten nach Stalingrad jagte, mit dem stereotypen Wort: »Gesund!« Gesund auch dann, wenn sie vor Hunger und Entkräftung schwankten, wenn Furunkel ihren Körper bedeckten, wenn das Fieber sie schüttelte ... rabotat nada ... dawai ... dawai...
Ihr habt Stalingrad zermalmt ... ihr habt die schöne Stadt an der Wolga pulverisiert ... nun baut sie wieder auf... und wenn es sein muß, mit euren Knochen! Mit eurem Blut als Mörtel, mit eurem Fleisch als Steinen, mit euren letzten Seufzern als Richtspruch!
Dr. Böhler sah herüber. »Fertig mit den Instrumenten?«
»Der Stiel hat sich durch das kochende Wasser vom Schaft gelöst«, antwortete ich leise.
»Macht nichts«, meinte Böhler, »wenn der Holzstiel weg ist, können wir es wenigstens besser sterilisieren - soweit hier von Sterilität überhaupt die Rede sein kann«, fügte er traurig lächelnd hinzu.
Er drehte sich nach Sellnow um, der noch immer mit dem Reinigen seiner Hände beschäftigt war, und rief:»Sind Sie fertig, Sell-now?« und dann zu mir: »Beginnen Sie mit der Narkose, Schultheiß.« Während ich unsere kostbare Ätherflasche öffnete und die aus Draht und Mullbinden behelfsmäßig angefertigte Narkosemaske an mich nahm, sprach Böhler einige tröstende Worte zu unserem Patienten.
»Nur mit der Ruhe, mein Junge«, sagte er, »das kriegen wir schon hin, in vierzehn Tagen sind Sie wieder auf dem Damm.« Er machte mir ein Zeichen mit dem Kopf, und ich setzte die Maske vor Mund und Nase des Kranken.
»Tief und ruhig atmen«, sagte ich zu ihm, »und von hundert rückwärts zählen, hundert, neunundneunzig, achtundneunzig und so weiter, verstanden?«
In diesem Augenblick trat die Kasalinsskaja heran und nahm mir die Ätherflasche aus der Hand. »Lassen Sie mich«, sagte sie hart und dann, gewollt gebrochen in ihrem sonst guten Deutsch: »Du geh zu Chef.«
Ich blickte auf und in das Gesicht Sellnows. Seine Augen verschlangen die Kasalinsskaja. Der Haß in seinem Blick war unverkennbar, aber auch die Bewunderung für dieses Weib mit der wunderbaren Figur.
»Haben Sie kein Skalpell?« fauchte er sie an. Sie schüttelte den Kopf. »Kein Instrument?« fuhr er fort. Sie schüttelte den Kopf. »Womit operieren Sie denn dann?«
»Ich bin Internistin, ich operiere nie.« Die Kasalinsskaja lächelte, wirklich, sie lächelte Sellnow an und begann dann ungerührt den Äther auf die Maske zu tropfen.
Der Kranke hatte aufgehört zu zählen und fing plötzlich an, heftig zu zucken und sich aufzubäumen.
»Exzitation«, sagte Dr. Böhler ruhig. »Schultheiß und Pelz, halten Sie ihn fest - und Sie«, er machte eine Kopfbewegung zur Ka-salinsskaja, »tropfen Sie schneller.«