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»Gehen Sie zum Hauptlager zurück. Ich rate es Ihnen. Was ich hier tue, verantworte ich.«

»Vor wem? Vor Gott etwa?«

»Gott?« Die Kasalinsskaja lachte schrill. »Belästigen Sie doch den armen, alten Mann nicht. Er hat Arbeit genug, all die Gebete zu verdauen.«

Dr. Böhlers Trotz wurde Härte. Er ballte die Fäuste.

»Ich bleibe!«

»Wie Sie wollen.« Die Kasalinsskaja betrachtete ihn spöttisch. »Dann werde ich Ihr Hauptlazarett im Lager auflösen lassen.«

Dr. Böhler erbleichte. »Hören Sie, Dr. Kasalinsskaja.«

»Ich werde dieses Hurennest ausräumen!« schrie sie plötzlich unbeherrscht. Ihre Wildheit überwältigte sie. Sie tobte und war nicht mehr Herr über sich. »Alles, alles wird vernichtet werden!«

Dr. Böhler ergriff ihren Arm und drückte ihn fest an sich. Schmerzhaft verzog sich ihr Gesicht, sie wollte sich losreißen, aber er hielt sie eisern fest. »Das nehmen Sie zurück«, sagte er laut. »Ich lasse mein Lazarett nicht beleidigen . auch nicht von einer russischen Ärztin.«

Alexandra sah ihn spöttisch an. »Ich nehme nichts zurück. Wenn Sie mich anzeigen wegen der Zustände im Lager 12, zeige ich Sie an, daß in Ihrem Lazarett gehurt wird.«

»Wer?« schrie Dr. Böhler. »Wer, will ich wissen.«

»Ihr Oberarzt.«

»Sellnow?«

»Ja! Ja!« Sie lachte wild und hysterisch. »Mit mir! Seit über einer Woche! Fast jede Nacht! Er ist ein Schwein und hat die Kraft eines Urtiers. Wenn er mich anfaßt und nimmt, könnte ich die Welt zerreißen. Wenn der Tag kommt, nehme ich mir meine Rache. Dann müssen alle büßen . hier im Lager 12, im Lager 14, 16 und 19. Jeder Kuß eine Gesundmeldung, jeder Seufzer in der Nacht ein freies Bett im Sanitätsrevier.«

Dr. Böhler ließ sie los, seine Arme fielen schlaff am Körper herab. Mein Lazarett . seit über einer Woche. Sellnow. Es ist furchtbar. Wenn es Worotilow erfährt, Dr. Kresin, die Division in Stalingrad oder Moskau. Er schloß die Augen vor dem Entsetzen der nicht auszudenkenden Folgen und spürte nicht, wie die Kasalinsskaja ihn anstieß. Erst als sie ihm gegen das Schienbein trat, öffnete er die Augen.

»Erledigt?« fragte sie. »Genügt das? Sie sehen so bleich aus, mein Bester.«

Worotilow, dachte Dr. Böhler. Unsere Stärke ist die Grausamkeit, die Mißachtung des einzelnen für das Ziel des großen Interesses. Da schüttelte er den Kopf.

»Zeigen Sie es an, Dr. Kasalinsskaja«, sagte er. »Sie werden mit vernichtet werden! Sie dulden ja die Besuche von Sellnow.«

»Er hat mich vergewaltigt. Einfach gezwungen.«

»Jede Nacht?«

Alexandra lachte schrill. »Jede Nacht lasse ich mich bezwingen! Ich hasse den Morgen, wo es nicht geschah. Aber beweisen Sie es, Dr. Böhler! Ich werde sagen: Er zwingt mich mit brutaler Gewalt!« Dr. Kasalinsskaja scharrte mit den Spitzen ihrer hohen Juchtenstiefel in dem Staub des Lagerbodens. »Und man wird einer russischen Ärztin und alten Kommunistin bestimmt viel mehr glauben als 10.000 schmutzigen und verlausten deutschen Plennis zusammen.«

»Da haben Sie recht.« Dr. Böhler wollte sich abwenden, aber Alexandra hielt ihn zurück.

»Sie gehen zurück?«

»Im Gegenteil, ich bleibe.«

»Sie wollen den Märtyrer spielen!« schrie die Kasalinsskaja wild.

»Nein - ich will nur ein Arzt sein - falls Sie verstehen, was das ist.«

Mit einem Fluch drehte sich die Ärztin herum und stapfte in die Waschbaracke neben dem großen Tor. Dort traf sie auf den Feldwebel, der in der Sonne saß und sich lauste.

»Mein Täubchen«, sagte er zu ihr. »Geh hinein zu Iljitsch Stefa-now. Der Saukerl von Mongole hat bestimmt einen Tripper . er wimmert immer, wenn er pissen muß.«

Alexandra Kasalinsskaja schlug ihm mit der flachen Hand in das sibirische Bauerngesicht. Es klatschte laut - aber keiner achtete darauf.

Und der Feldwebel grinste. Lieber sie als der Major.

Mein Gott, Mütterchen Rußland ist ein rauhes Mütterchen. Aber es hat Herz.

Sein breites Gesicht verklärte sich, als er in einer Falte seiner schmut-zigen Unterhose eine vollgesogene, dicke Laus entdeckte, die er zwischen den Daumennägeln zerquetschte.

In der Sanitätsbaracke kochte der Sanitäter die Spritze aus. Das Erscheinen der Kasalinsskaja hatte einen höllischen Schock bei ihm bewirkt. Er kroch durch die Zimmer und ging Dr. Böhler aus dem Weg, der bei den Kranken saß und sie beruhigte.

»Ihr bleibt liegen«, sagte er. »Ihr steht nicht auf und versteckt euch! Ihr seid krank, kränker, als ihr denkt. Ihr werdet in das Hauptlazarett kommen .in den nächsten Tagen.«

»Das Weib wird uns mit der Peitsche aus dem Bett treiben«, sagte einer aus der Ecke des Raumes. »Sie hat es schon einmal getan.« Ein Zittern ließ seine Stimme beben. »Und als Strafe wegen Simu-lierens täglich 100 Gramm Brot weniger.«

Die berühmten 100 Gramm, dachte Dr. Böhler. Baschas Schal, mit dem wir den Oberfähnrich nähten, kostete 700 Gramm Brot und 300 Rubel. Und wieder fiel ihm Major Worotilow ein. Nur die Gewalt bezwingt den Menschen.

Die Tür wurde aufgerissen. Die biegsame Gestalt der Kasalinss-kaja stand auf der Schwelle. Das hereinflutende Sonnenlicht umspielte ihre Locken und die schlanken, langen Beine in den Juchtenstiefeln. Sie waren staubig, wie mit Mehl überzogen. In der Hand hielt sie eine Reitgerte.

»Wer ist hier krank?« schrie sie in den Raum.

Der Sanitäter rannte aus einer Ecke herbei und baute sich vor ihr auf. Er knallte die Hacken zusammen und grüßte wie auf dem Kasernenhof.

»Vier Mann erkrankt.«

»Was fehlt ihnen?«

»Dystrophie, Gelbsucht und Tbc-Verdacht!«

»Das sind keine Krankheiten! Alles 'raus aus den Betten!« brüllte die Kasalinsskaja. »Sofort vor der Baracke antreten! Ich warte keine Minute.«

Sie warf die Tür wieder hinter sich zu. Man hörte ihren Schritt über den Platz knirschen. Dr. Böhler, der noch immer an einem der

Betten saß, winkte den Soldaten zu, die sich erheben wollten, und sprang selbst auf.

»Liegenbleiben! Ich gehe für euch hinaus. Ihr seid krank!«

Er ging durch den Raum, vorbei an dem vor Angst bebenden Sanitäter, und riß die Tür auf. Auf dem Platz, zehn Schritte von der Baracke entfernt, stand Dr. Kasalinsskaja, eine Uhr in der Hand. Ihre Lippen zählten lautlos die Sekunden. Nach einer Minute würde sie mit der Peitsche kommen.

Dr. Böhler ging auf sie zu und blieb drei Schritte vor ihr stehen. Er knallte wie der Sanitäter die Hacken zusammen und hob die Hand zum Gruß.

»Vier Kranke zur Stelle.«

Die Kasalinsskaja sah auf. Sie steckte die Uhr weg, sah sich um.

»Hier! Als ihr Arzt vertrete ich sie. Ich habe Bettruhe angeordnet.«

Alexandra senkte den Blick. Sie drehte sich um und ging über den Platz davon. An der Waschbaracke heulte kurz darauf ein Motor auf, der Jeep schwenkte durch das große Tor und raste in einer Staubwolke durch die Waldschneise davon.

In der Tür der Sanitätsbaracke stand der Sanitäter. Er sah dem Wagen nach und starrte dann auf Dr. Böhler, der zurückkam.

»Sie ist weg«, stotterte er. »Sie ist wirklich weg.« Und plötzlich riß er die Hacken zusammen und stand da wie ein Bild aus der Dienstvorschrift für die Infanterie. »Die Spritze ist ausgekocht, Herr Stabsarzt«, rief er begeistert. »Darf ich Herrn Stabsarzt weiter behilflich sein.«

Nach vier Tagen kam Major Worotilow zu einem kurzen Besuch ins Lager 12.

Er traf Dr. Böhler an, wie er Atebrin injizierte.

»Atebrin?« Worotilow sah erstaunt auf die aufgebrochene Ampulle, die neben dem Bett lag. »Wo haben Sie das denn her?«

»Lag zufällig hier herum, amerikanisches Fabrikat. Übrigens ahnte ich, was ich hier antreffen würde. Aber was ich bis jetzt gesehen habe, übertrifft meine Vermutungen. Die Lage der Gefangenen ist kaum noch menschenwürdig zu nennen.«

Major Worotilow setzte sich auf den Bettrand und betrachtete das eingefallene Gesicht des Kranken, der die Injektion erhielt.

»Warum bist du hier?« fragte er barsch.