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»Ich habe gestohlen, Major.«

»Was denn?«

»200 Gramm Brot, Major. Aber ich hatte Hunger.«

»Das haben die anderen auch!« Worotilow blickte zu Dr. Böhler hin, der die Spritze weglegte. »Haben Sie sich schon einmal die Mühe gemacht, zu fragen, warum diese Kerle im Lager 12 sind?«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf. »Nein. Warum sollte ich? Und selbst wenn es Raubmörder wären - was sie hier abzubüßen haben, ist eine grausame Strafe für jedes Verbrechen.«

Worotilow lächelte mokant. »Sie haben schwache Nerven, Herr Doktor. Es gibt Schlimmeres. Kasymsskoje.«

»Ich hörte davon, Major. Es ist eine Schande für Rußland.«

»Und die Welt schweigt, weil wir stark sind.«

»Sie schweigt nicht, sie wird euch anklagen.«

»Auf dem Papier. Das hängen wir auf die Latrine der Tataren! Und Kasymsskoje besteht weiter. Wer will uns daran hindern? Amerika? England? Das angstzitternde Frankreich? Lieber Doktor - der Westen ist faul wie eine Birne, die zu lange liegt. Wir lassen es auf einen dritten Weltkrieg ankommen, auch gegen amerikanische Waffen! Der Westen läuft sich tot in der Weite Rußlands. Das Land saugt die Menschen auf wie der Sandboden das Wasser. Und Rußland wird weiterleben, denn Rußland wird einmal der Mittelpunkt der Welt sein. Der Traum Peters des Großen!«

»Fangen Sie schon wieder an?« Dr. Böhler erhob sich und deckte den Kranken zu. Er ging in einen Nebenraum, wusch sich dort in einer Blechschüssel die Hände und ließ sie trocknen, indem er sie durch die warme Luft schwenkte. »Sie haben mich noch nicht so weich, um Ihnen recht zu geben.« »Es fehlen ja auch noch vier Tage«, lächelte Worotilow.

»Es könnten 400 sein.« Dr. Böhler fuhr sich mit den feuchten Händen über die spärlichen Haare. »Ich gäbe Ihnen niemals recht.«

»Aus Prinzip?«

»Ja.«

»Sie sind nicht objektiv.«

»Sind Sie es, Major?« lächelte Dr. Böhler.

Worotilow schob die Unterlippe vor und krauste die Stirn. Sein dickes, fleischiges Gesicht mit den klugen Augen wirkte einen Augenblick verblüfft. Dann wandte er sich zum Gehen. Dr. Böhler ging neben ihm.

»Im Lager geht alles gut. Dr. von Sellnow führt das Lazarett, Dr. Kresin hilft ihm. Ihr junger Unterarzt behandelt weiter Janina.«

Dr. Böhler sah auf den staubigen Boden. Janina Salja und Dr. Schultheiß. Gebe Gott, das sich Schultheiß anders benimmt als Sell-now. Es wäre furchtbar, wenn Major Worotilow aus einem Traum erwachte. Es wäre das grauenhafte Ende des ganzen Lagers.

»Und die Kasalinsskaja?« fragte Dr. Böhler vorsichtig.

»Sie ist ziemlich zahm. Aber täglich hat sie Streit mit dem Oberarzt. Gestern hat sie ihm einen Stuhl aus dem Fenster nachgeworfen und einen unschuldigen Soldaten getroffen. Ihr Oberarzt hat ihr geantwortet, indem er den Geworfenen dick verband und schiente und ihr ins Zimmer schickte zwecks Krankschreibung.«

»Und was tat sie?«

»Sie schrieb den Unverletzten tatsächlich krank! Für eine Woche! Als Sellnow den Bescheid erhielt, nahm er Verband und Schiene weg und ließ den Mann laufen.«

Worotilow lachte schallend, aber Dr. Böhler wurde ernst. Er treibt es auf die Spitze, dieser Sellnow. Einmal wird es zu einer Katastrophe kommen. Auch die Liebe der Kasalinsskaja wird einmal zerbrechen, wenn sie täglich getreten wird und widertritt. An dieser Haßliebe können wir alle zugrunde gehen.

»Ist es möglich, Sellnow in ein anderes Lager versetzen zu lassen?« fragte er.

»Warum das?!« Worotilow blieb stehen. Sein Staunen war echt. »Ist etwas mit ihm?«

»Rein privater Natur. Er müßte dringend eine Luftveränderung haben! Wenn es nur für ein halbes Jahr ist.«

»Versetzungen in andere Lagergruppen erfolgen nur von Moskau aus. Wenn ich Moskau aber darum bitte, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen.«

Dr. Böhler sah sinnend über die in der Sonne flimmernden Wälder. Ein Raupenschlepper rollte durch die Schneise. Er zog einige dicke Stämme zu einem Sammelplatz. Irgendwo sangen ein paar dünne Stimmen.

»Können Sie sich sagen, daß unser Lazarett über Soll mit Ärzten versehen und Dr. von Sellnow für eine Zeit abkömmlich ist?«

»Aber das stimmt doch gar nicht!«

»Natürlich nicht. Aber ich hätte ihn gern einige Zeit von Lager 5110/47 entfernt.«

Major Worotilow schüttelte den Kopf. »Hatten Sie eine Auseinandersetzung mit Sellnow?«

»Nein. Durchaus nicht. Wir verstehen uns gut. Rein private Gründe zwingen mich aber leider dazu, den Oberarzt - sagen wir - zu isolieren. Er hat in der letzten Zeit etwas die Nerven verloren und ist dabei, sie völlig zu verlieren - und seinen Kopf dazu.«

»Das verstehe ich nicht, Doktor.«

Dr. Böhler nickte gedankenvoll. »Ich verstand es erst auch nicht. Aber nachher war das Verstehen um so bitterer für mich. Ich achte Sellnow als guten Arzt und vorbildlichen Kameraden. Aber« -Dr. Böhler lächelte Worotilow ein wenig gequält an - »Ihr Rußland war auch bei ihm stärker!«

»So?« Worotilow drang nicht weiter in Dr. Böhler. Rußland war stärker, grübelte er, als er neben dem Arzt zu seinem Wagen ging. Was kann er damit meinen? Ich werde Sellnow selber fragen. Über die Schneise kamen vier Männer. In einer Zeltplane trugen sie einen Verwundeten. Worotilow wies mit dem Kinn zu ihnen hin.

»Ihr Geschäft blüht, Doktor.«

»Und ich habe kaum Verbände, keine Wundsalbe, keinen Äther, kein Karbol, kein Pflaster, ich habe hier überhaupt nichts.«

»Für die Ausstattung der Außenlager ist Dr. Kasalinsskaja zuständig.« Worotilow nickte. »Ich werde es ihr sagen.«

»Sagen Sie ihr, bitte, daß ich bis morgen mittag eine behelfsmäßige Verband-Ausrüstung brauche, einige Reagenzgläser, drei Injektionsspritzen und vor allem Narkotika!« Dr. Böhler sah Worotilow an. In seinen Augen lag die Dringlichkeit seiner Bitte. »Wenn Dr. Kasalinsskaja diese Sachen nicht schickt, ist es - sagen Sie ihr das, bitte -, ist es glatter Mord an diesen Menschen hier!«

»Ich will es versuchen.« Worotilow hob ein Bein in den Jeep. »Ich bin eigentlich viel zu höflich zu Ihnen«, bemerkte er ernst. »Warum, weiß ich nicht. Sie sind ein Gefangener, ein Deutscher, mein Feind! Ich sollte sie behandeln wie ein Stück Dreck. Statt dessen behandle ich Sie wie einen Kameraden. Vielleicht wird man mir das einmal höheren Orts übelnehmen.«

»Dann wären ja auch Sie ein Opfer der Grausamkeit, die Sie anbeten«, lächelte Böhler.

»Allerdings.« Worotilow stieg auf den Sitz des Jeeps, den ein kleiner Mongole fuhr. Der Asiate grinste Dr. Böhler breit an. »Es ist verflucht schwer zu vergessen, daß man ein Mensch mit Gefühlen ist.«

Der Motor brummte. Worotilow schob die Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Er sah aus wie eine schmollende Bulldogge. Dr. Böhler hatte die Hand auf dem Rahmen der heruntergeklappten Windschutzscheibe liegen.

»Der Feldwebel ist noch immer da. Er wartet auf seinen Abtransport. Seine Sachen stehen seit vier Tagen gepackt. Er wagt nicht mehr, sich zu rühren.« Böhler sah zurück zur Waschbaracke. »Wann holen Sie ihn ab?«

Worotilow blickte Dr. Böhler böse an. »Hol der Teufel euch Deutsche«, sagte er knurrend. Dann stieß er den Mongolen in die Seite, und der Jeep fuhr in einer Staubwolke davon.

Dem Verwundeten, den die vier Männer in der Zeltplane heranschleppten, war eine Säge in den Fuß gefahren. Zwischen der zweiten und dritten Zehe war der Fuß sieben Zentimeter tief in zwei Hälften gespalten. Der Verletzte wimmerte und schlug den Kopf vor Schmerz von einer Seite zur anderen. Die Beine lagen in einer Blutlache.

Dr. Böhler biß die Lippen aufeinander. Seine vollkommene Ohnmacht kam ihm in diesen Sekunden so stark zum Bewußtsein, daß er sich vor Gott schämte, ein Mensch zu sein.

Kein Narkosemittel . kein chirurgisches Instrument.

Der Sanitäter an der Barackentür rannte voraus und legte auf den >Operationstisch< einen gewaschenen Sack als Unterlage.

Dr. Böhler mußte an das Taschenmesser denken und schloß einen Augenblick die Augen. Wie sollte er diese schreckliche Wunde versorgen?