»Haben wir Gips?« fragte er leise.
»Jawohl, Herr Stabsarzt«, der Sani war bleich, »aber keine fertigen Gipsbinden.«
»Können Sie mit Mullbinden Gipsbinden herstellen?«
»Ja«, antwortete der Mann, »das kann ich.« Er war stolz.
»Also, dann los, Mann, was stehen Sie noch hier. Streuen Sie ein Dutzend Binden ein und machen Sie viel heißes Wasser, aber schnell, schnell.«
Der Sanitäter rannte eifrig davon.
Die vier Träger sahen den fremden Plenni vor sich erstaunt an. Sie legten die Zeltplane mit dem jammernden Verwundeten auf ein leeres Bett und wischten sich den Schweiß aus den staubigen Gesichtern. Wo sie sich mit dem Handrücken trockneten, hinterließ der Schweiß große Flecken auf der schmutzverkrusteten Haut.
»Wer bist du denn?« fragten sie. »Ein Arzt?«
»Ja.« Dr. Böhler untersuchte den zerfetzten Fuß. »Ich heiße Dr. Böhler.«
Die vier schauten sich verblüfft an. »Wir kommen aus dem Lager 16, hinter dem Wald. Bei den Sümpfen. Ein Dreckloch, Herr Doktor. Wir hörten schon, daß hier ein Arzt sein soll und haben den Karl hergeschleppt. Drüben bei uns geht er ja doch ein. Wir wollten's gar nicht glauben, daß hier ein Arzt ist, und haben uns gesagt: Bringen wir den Karl nach 12. Ist's wahr, hat er Glück, ist's nicht wahr, geht er in 12 genauso vor die Hunde wie in 16!« Der Sprecher, ein langer, dürrer Kerl, dessen dicker Adamsapfel beim Sprechen immer auf und nieder hüpfte, sah Dr. Böhler aus glänzenden Augen an. »Und nun ist's doch wahr.«
»Der Karl hat viel Blut verloren, Jungs«, sagte Böhler zu ihnen. »Und er kann Starrkrampf bekommen. Ich habe nichts hier als ein bißchen Verbandzeug und meine Hände.«
Die vier schauten sich betreten an. »Man sollte wirklich Schluß machen«, sagte der Lange dumpf. »Einem Russen in den Hintern treten und sich dann erschießen lassen. Dann ist alles vorbei.«
»Darauf warten sie doch bloß, du Idiot«, fiel ihm ein anderer ins Wort. »Beiß die Zähne zusammen, und schau nicht hin.«
Der Sanitäter kam in den Raum. Er hatte die Gipsbinden und Verbandzeug in der Hand. Einer der Malariakranken trug eine Blechschüssel mit kochendheißem Wasser hinterher.
Dr. Böhler nahm sich die Männer beiseite, die den Verwundeten gebracht hatten.
»Es wird schlimm werden«, flüsterte er ihnen zu, »ich habe nichts, um ihn zu narkotisieren. Ihr müßt ihn ganz fest halten. Es wird wahnsinnig weh tun, aber er stirbt fast sicher an einer Infektion, wenn ich die Wunde nicht reinige. So, jetzt haltet ihn.«
Die Männer traten neben den Tisch und legten die Hände an den Verletzten. Noch packten sie nicht fest zu, denn der Kranke war ganz seinem Schmerz hingegeben und kümmerte sich nicht um sie.
Dr. Böhler trat heran und wies den Sanitäter an, wie er den Fuß zu halten habe. Der Kranke schrie wild auf, als der Arzt den Fuß mit heißem Wasser zu waschen begann. Er versuchte, um sich zu schlagen, und die Männer packten zu. Sie mußten alle Kraft anwenden, um ihn zu bändigen.
Böhler arbeitete blitzschnell. Mit einem Schnitt des Messers amputierte er eine Zehe, die an der Wurzel schon zum größten Teil abgerissen war. In Windeseile schnitt er die Hautfetzen an den Wundrändern ab - aber es ging immer noch zu langsam. Der Verletzte brüllte auf vor Schmerz und versuchte, den Händen seiner Peiniger zu entkommen.
»Laßt mich in Ruhe, ihr Schweine«, schrie er, und »mein Gott, das ist nicht auszuhalten!«
Die Männer, die ihn hielten, zitterten. Nahm das denn nie ein Ende.
Böhler preßte den Fuß mit einer Hand zusammen und wickelte mit der anderen in Sekunden den Verband darum. Der Sanitäter half, so gut er konnte, was wie eine Stunde schien, hatte knapp zwei Minuten gedauert.
Dr. Böhler legte dem Verwundeten die Hand auf die Stirn.
»Es ist alles vorbei«, sagte er tröstend, »und bald tut's auch nicht mehr weh. Aber ich mußte es tun, nicht wahr, das verstehst du doch?«
Dem Verwundeten standen große Tränen in den Augen. Wortlos griff er nach der Hand des Arztes und drückte sie.
Zum Abschluß tauchte Böhler die Gipsbinden in kaltes Wasser und umwickelte damit den verletzten Fuß. Zuletzt lag dieser völlig in einem Gipsverband.
»Da müssen wir nachher, wenn der Gips hart geworden ist, oben und unten ein Fenster hineinschneiden, damit die Wunde freiliegt. Vielleicht treiben wir irgendwo etwas Scherenartiges auf. Wenn nicht, muß es mit dem Messer gehen.«
»Jawohl, Herr Stabsarzt«, sagte der Sanitäter, und in seinen Augen lagen Respekt und uneingeschränkte Bewunderung.
Im Hauptlazarett focht unterdessen Dr. von Sellnow einen Kampf gegen den politischen Kommissar Wadislav Kuwakino und Leutnant Piotr Markow aus. Es ging um den noch immer im Lazarett liegenden Hans Sauerbrunn, den Kuwalkino jetzt abholen wollte, um ihn nach Moskau zu schleifen.
Sellnow hätte diesen Kampf nie gewonnen und nie zu führen ge-wagt, wenn er nicht die plötzliche, erstaunliche Unterstützung der Kasalinsskaja bekommen hätte. Sie sagte >njet< zu Kommissar Ku-wakino und schrieb den Gefreiten Sauerbrunn nicht transportfähig.
»Ein kleiner Schlag nur!« schrie Kuwakino. »Wie kann eine Ohrfeige so krank machen?!«
Alexandra zog die schwarzen Augenbrauen hoch. Ihr hochmütiges Gesicht machte Leutnant Markow wild, aber er beherrschte sich, weil Major Worotilow neben ihm stand. »Eine kleine Ohrfeige?« sagte die Kasalinsskaja. »Soll ich Ihnen einmal das Nasenbein einschlagen lassen?«
Wadislav Kuwakino wurde weiß. Er zitterte vor Erregung und sah Major Worotilow an. »Helfen Sie mir doch«, sagte er stockend.
»Ich bin Kommandant der Lagers . die Verantwortung für die Gesundheit tragen die Ärzte.«
»Der Mann heißt Sauerbrunn.« Sellnow blätterte in den Gefangenenpapieren. »Er ist auch so im Soldbuch eingetragen gewesen.«
»Alles gefälscht. Wenn Moskau sagt, er heißt Sauerbruch, dann heißt er Sauerbruch!«
»Wie schade, daß man dich in Moskau nicht Rindvieh nennt«, brummte Sellnow. Die Kasalinsskaja trat ihm unter dem Tisch auf den Fuß. Leutnant Markow schnaubte durch die Nase und ballte die Fäuste.
Der Kommissar wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ich nehme ihn auch mit kaputtem Nasenbein mit nach Moskau. Ich übernehme allein die Verantwortung! Aber er muß nach Moskau.«
»Njet!« sagte die Kasalinsskaja.
Leutnant Markow lachte ironisch. »Genossin Kasalinsskaja hat die Deutschen lieben gelernt«, sagte er anzüglich. »Oder täusche ich mich, daß sie öfter als sonst ins Lager 12 fährt?«
»Es geschieht auf meinen Wunsch«, fiel Major Worotilow steif ein. Leutnant Markow machte ein dummes Gesicht und schwieg verbissen. Sellnow betrachtete die Kasalinsskaja von der Seite und fing ihren Blick auf. Er war voller Triumph - und er grübelte vergeblich, war-um sie sich so einschneidend geändert hatte und was sie veranlaßte, gegen ihre Art ihm zur Seite zu stehen.
»Ich werde das nach Moskau melden«, drohte Wadislav Kuwaki-no. Seine Stimme schwankte.
»Bitte.« Alexandra hob die Schulter.
Mit einem Fluch ließ Kuwakino die Gruppe stehen und entfernte sich allein zur Kommandantur. Leutnant Markow und - etwas langsamer - Major Worotilow folgten ihm.
Sellnow kratzte sich den Kopf und sah Alexandra an.
»Warum hast du das getan?« fragte er. »Sauerbrunn ist doch transportfähig. Das weißt du so gut wie ich.«
»Allerdings.« Sie lächelte ihn an. Zwischen ihren vollen Lippen leuchteten die blendendweißen Zähne. »Ich tat es nur aus Haß zu dir.«
»Aus Haß?« Sellnow lachte. »Mein Liebling, ich bin ergriffen.«
»Das kannst du.« Die Kasalinsskaja drehte sich schroff um. Über die Schulter hinweg sagte sie: »Ich werde Sauerbrunn morgen, wenn Kuwakino weg ist, arbeitsfähig schreiben. Für die Wälder.«
Erstarrt blieb Sellnow stehen. Sein Blick folgte ihrem beschwingten Gang, als sie zur Baracke schlenderte.
»Du gottverdammtes Aas«, sagte er leise. »Man sollte dich erwürgen, wenn die Nacht für dich am schönsten ist.«