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Aus dem Fenster der Lungenstation klang die Stimme Janinas. Sie sang ein kleines, wehmütiges Lied.

Am nächsten Morgen fuhr Alexandra Kasalinsskaja mit dem Jeep nach Lager 12.

Sie war in der Nacht nicht erwürgt worden, aber auch Hans Sauerbrunn wurde nicht arbeitsfähig geschrieben.

Piotr Markow hatte eine schlechte Woche gehabt. Der Garten des Gefreiten Karl Georg blühte wieder! Er blühte schöner als je. Es standen sogar Stauden darin, Wuchersträuche, die mit grellen Farben Leben an die Wand der düsteren Baracke zauberten. Markow war zu Worotilow gerannt und hatte geschrien: »Ist das hier ein Gefangenenlager oder ein Park?« Und Worotilow hatte erwidert: »Das hier ist ein blühendes Gefangenenlager.« Eine Antwort, die Markow fast krank werden ließ.

Julius Kerner, der unermüdliche Organisator der Baracke und des ganzen Blocks, hatte eine neue Geldquelle für die Plennis erschlossen: Aus Lederresten, die eine Gruppe Arbeiter aus einer Schuhfabrik mitbrachte, fertigte man in den Abendstunden kunstvolle Sandalen, Pantoffeln, Portemonnaies und Brieftaschen an, auch Blumen zum Anstecken, die einen hohen Preis bei den Wachmannschaften erzielten und vor allem für die Bauernmädchen gekauft wurden, die den Soldaten die dienstfreie Zeit versüßten. So kam die Baracke schnell in den Besitz von 400 Rubel und erteilte dem in StalingradStadt arbeitenden Peter Fischer den Auftrag, eine Trompete zu kaufen.

Leutnant Piotr Markow verlor fast seine Mütze und seine Beherrschung, als er eines Abends nach dem Zählappell lautes Trompetengeschmetter über den Lagerplatz hallen hörte. Der Trompeter von Säckingen tönte auch noch, als er schreiend aus der Wachstube rannte. Dann war es still im Lager, und Markow stand einsam auf dem großen Appellplatz.

»Wer hier blasen?!« schrie er. »Wer hier Trompette?!«

Die Soldaten in den Fenstern grinsten. Karl Georg streichelte seine blühenden Stauden, Julius Kerner sang vergnügt. Es war, als sei ein lichter Engel durch das Lager gezogen . selbst die russischen Posten auf den Wachttürmen grinsten und beobachteten aus sicherer Höhe die Entwicklung der Dinge.

Leutnant Markow schwoll rot an. »Wer hier blasen?!« brüllte er hysterisch. Dann riß er seine Pfeife aus der Tasche und ließ sie in den Abend schrillen. Der Ton wurde in den Baracken weitergegeben . außerordentlicher Appell . alles antreten auf dem Platz.

»Ich euch kriggen, Hunde!« schrie Markow. »Ich euch kleinkrig-gen!«

Von den Baracken, aus den Blockstraßen, rannten die Gefange-nen herbei. Tausende Füße trappelten. Staub wirbelte auf. In Blocks angetreten, standen sie dann auf dem weiten Platz, Männer, in Hemdsärmeln, in zerrissenen Hosen, verhungert und müde. Piotr Markow musterte sie und schnalzte mit der Zunge.

»Ihr hier stehen, bis ich gefunden Trompette!« schrie er. Dann winkte er vier Soldaten und begann, die Baracken systematisch zu durchsuchen. Er fing mit der Baracke Julius Kerners an und durchwühlte alles, was in ihr war - die Betten, die schmutzige Wäsche, den Waschraum, die Latrine.

Nichts!

Die nächste Baracke . die übernächste.

Drei - vier - sieben - zehn Baracken.

Nichts.

Leutnant Markow kam an die Tür des Lazaretts. Dort stand Dr. Kresin und beobachtete das Schauspiel. Als er Markow mit verschleierten Augen auf sich zukommen sah, hob er beide Arme und rief lachend:

»Gnade, Genosse Leutnant. Ich habe Trompette nicht geblasen.«

Mit wütendem Knurren wandte sich Markow ab und rannte zurück zur Kommandantur.

Nach einer Stunde Stehen wurde der Appell abgeblasen, die Gefangenen strömten in die Baracken zurück.

Ruhe lag wieder über dem Lager.

Als sich der Staub, den die Gefangenen in dichten Wolken aufgewirbelt hatten, wieder legte, erschütterte ein helles Schmettern die Luft.

Die Trompete.

In seinem Zimmer saß Leutnant Piotr Markow mit verzerrtem Gesicht und hieb mit geballten Fäusten wild auf den Tisch. Er weinte vor Wut.

Im Lager 12 saß Dr. Kasalinsskaja am Bett des Verletzten und betrachtete den aufgespaltenen Fuß. Wie Dr. Böhler befürchtet hat-te, stellte sich Fieber ein, und die Wunde eiterte.

»Wollen Sie auch den gesund schreiben?« sagte Dr. Böhler, nachdem sich die Kasalinsskaja erhoben hatte. »Mit den Händen kann er arbeiten, wenn Sie ihn an die Bäume rollen lassen.«

»Sie müssen den Fuß amputieren«, antwortete Alexandra kühl.

»Und nur, weil das ganze Sanitätswesen des Lagers restlos versaut ist«, sagte Dr. Böhler bitter. »Wir machen diesen armen Kerl für den Rest seines Lebens zum Krüppel, weil ihr, die Russen, die Sieger, ihr mit dem großen Geschrei vom Menschenrecht, den Menschen derart mißachtet. Den armen, hilflosen, getretenen, gefangenen Menschen.«

»Wenn Sie weitersprechen, schlage ich Ihnen mit der Reitpeitsche ins Gesicht«, sagte die Kasalinsskaja eisig. »Der Mann kommt sofort ins Hauptlager. Dort wird Sellnow ihn versorgen.«

Dr. Böhler steckte sich eine Zigarette an, die Dr. Kasalinsskaja ihm bei ihrem letzten Besuch dagelassen hatte. Genießerisch inhalierte er den Rauch.

»Ich habe noch etwas für Sie.« Er reichte ihr eine Liste hin. Sie nahm widerstrebend das Stück Papier und blickte darauf nieder.

»Was soll ich damit?« fragte sie unwirsch.

»Es sind die Namen von siebenunddreißig Gefangenen dieses Lagers«, sagte Dr. Böhler ironisch. »Diese Männer haben sich im vorigen Sommer eine Malaria zugezogen, und die Plasmodien leben jetzt in ihren Milzen und ihren retikuloendothelialen Systemen -wenn Sie davon schon mal gehört haben sollten - und werden demnächst wieder ausbrechen. Diese siebenunddreißig Gefangenen müssen hier weg, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch der anderen Gefangenen wegen, übrigens auch Ihrer Leute wegen. Jeder Mückenstich kann Malaria bedeuten - ich hoffe, Sie wissen, was das heißt.«

Die Kasalinsskaja drehte sich um und verließ schnell den Raum. Auf der Treppe der Baracke holte Böhler sie ein.

»Wo wollen Sie denn hin?« fragte er.

Sie schüttelte seine Hand ab. »Zurück ins Lager«, fauchte sie.

Er ließ sich nicht beirren. »Sie nehmen die Liste mit!« drängte er.

»Nein!«

»Doch, ganz bestimmt. Und Sie werden die Liste Dr. Kresin zeigen und ihm mitteilen, was sie zu bedeuten hat. Wir können nicht alle Gefangenen mit Malaria verseuchen lassen.«

»Der Krieg war ein Verbrechen an der Menschheit«, schrie sie ihn an. »Die Gefangenschaft ist seine gerechte Sühne.«

»Warum sträuben Sie sich, Alexandra?« Bei der Nennung ihres Vornamens fuhr die Ärztin herum. Nacktes Erstaunen und hüllenlose Angst standen in ihren Augen. Sie atmete heftig.

»Immer stehen Sie gegen uns Deutsche, immer ist Ihr Njet wie ein Todesurteil - aber hinterher überraschen Sie uns mit einer nie geahnten Liebenswürdigkeit. Warum sträuben Sie sich vorher immer? Haben Sie Angst vor Ihrem Herzen, Alexandra?«

Die Ärztin schloß einen Moment die Augen. Über ihr schönes, volles, tierhaft-lockendes Gesicht flog der Schimmer einer Röte. Dann hatte sie wieder Gewalt über sich, wandte sich ab und stapfte durch den Staub davon.

Erst als sie im Jeep saß und durch die Schneise ratterte, vorbei an den arbeitenden Kolonnen, die ihr haßerfüllt nachsahen, wischte sie sich über die Augen. Ihr Handrücken war feucht, als sie ihn am Rock abstreifte.

Mein Herz, dachte sie. Wer hat jemals nach meinem Herzen gefragt? Meine Eltern nicht... meine Lehrer nicht. Karlow nicht, der mich in Kasan vergewaltigte, als ich 17 war. Iwanow nicht, Peter, Julian, Serge und wie die Männer hießen. Werner nicht. Keiner, keiner . mein Herz?

Habe ich noch ein Herz? Ist es nicht getötet worden durch die Kälte, die mir von allen Menschen entgegenschlug? Durch die Gier, mit der sie mich nahmen und nachher wie einen abgenagten Knochen wegwarfen?

Was weiß Dr. Böhler von meinem Herzen? Sah er es? Erkennt er es.? Würde er es finden.?

Der Wald wurde lichter. Die Steppe lag vor ihr. Die Luft flimmerte vor Hitze. Hinter ihr krachten die Bäume ins Unterholz. Der Motor sang.