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Unter dem blauen Himmel kreiste still, mit weiten Schwingen, ein Bussard.

Die Sonne brannte.

Aus dem Wachhaus des Lagers 12 trat der Feldwebel und hatte beide Arme vollbeladen. Er legte die Pakete auf den Tisch vor Dr. Böhler und nickte.

»Woher?« fragte der Arzt erstaunt.

»Von Genossin Ärztin.« Der Russe grinste breit. »Es ist alles dabei, was Sie sich gewünscht haben. Verbandzeug. Spritzen . Nadeln. Scheren. Narkosemittel. Medikamente. Alles.«

Dr. Böhler legte die Hände auf die Pakete und sah hinaus aus dem Fenster auf den Wald.

In der Schneise lag noch der Staub des Wagens in der Luft.

ZWEITES BUCH

Der erste Schnee lag über den Wäldern der Steppe.

Von Sibirien, über den Ural und vom Kaspischen Meer her fluteten die kalten Winde über die Ebene der Wolga. Der Don begann schon zuzufrieren. In der Nacht heulten die Wölfe und strichen um die Höfe der Kolchosen.

Im Lager 5110/47 wurden die Wintersachen ausgegeben. Steppjacken, Fellmützen, Filzstiefel, dicke Fußlappen, gesteppte Hosen und Pelzhandschuhe. Von den Wäldern des Lagers 12 kamen große Transporte mit Holz über die verharschte Straße. Ein Teil der Fenster in den Baracken wurde mit Papier verklebt und die Ritzen mit Lehm ausgeschmiert. Man kannte die Stürme und die eisige Kälte, man hatte sie erlebt ohne Schutz. Mit einfachen Sommermänteln und dünnen Wollhandschuhen ging man in die Gefangenschaft und lag in Haufen zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen.

Mit dem ersten Schnee wurde auch das Gesicht Janinas wieder blaß. Sie war in den letzten Monaten voller geworden - aber in ihren Augen stand noch immer die Qual der Krankheit und das Wissen um ein zu kurzes Leben.

Sellnow war dem Wunsche Dr. Böhlers zufolge in das Außenlager Stalingrad-Stadt versetzt worden und betreute dort die Bau- und Fabrikarbeiter. Alexandra hatte diese schnelle Versetzung mit Verbissenheit und Trotz ertragen. Sie stellte ihren Haß auf Major Wor-otilow um und ließ ihn stehen, wenn er sie ansprach, oder verließ den Raum, wenn er in ein Zimmer trat. Dr. Kresin sah es mit Stirnrunzeln und schüttelte den Kopf.

Der Oberfähnrich war schon entlassen. Er lebte in einer Baracke in Block 17 und wurde mit leichter Lagerarbeit beschäftigt. Außerdem war er der Regisseur eines kleinen Theaterstückes, das ein Plenni geschrieben hatte und das als Weihnachtsüberraschung in der großen Saalbaracke aufgeführt werden sollte. Julius Kerner hatte in diesem Stück ein Trompetensolo übernommen und übte es mit Ausdauer und Energie jeden Abend, wenn Leutnant Markow seine Dienstrunde machte. Da diese Übungen mit der ausdrücklichen Genehmigung Major Worotilows stattfanden, hatte Markow keinen Anlaß zum Eingreifen und sah nur von der Tür aus mit verzerrtem Gesicht, wie Kerner mit geschlossenen Augen an seiner Trompete hing und ihr die höchsten und grellsten Töne entlockte. Karl Georg hatte seinen Garten mit Tannenzweigen abgedeckt, die Stauden ausgegraben und in seinem Spind verwahrt und hoffte auf einen schönen Sommer im nächsten Jahr.

Vielleicht einen Sommer in der Heimat?

Sie dachten alle daran ... die Hoffnung gab ihnen Kraft, ihr Los zu tragen, aber sie sprachen wenig darüber, weil ihre Augen dann traurig wurden und das Herz schwer vor Sehnsucht und Heimweh. Man informierte sich in der Stille bei den Ärzten, die den besten Kontakt mit der Lagerleitung hatten, und man erfuhr, daß zu Weihnachten 1948 Transporte in die Heimat gehen sollten ... vor allem Kranke und Arbeitsunfähige.

Peter Fischer und Karl Eberhard Möller hatten eine erregte Aussprache mit den anderen Kameraden ihrer Baracke. Sie fand an einem Abend statt, nachdem Piotr Markow schon das Lager kontrolliert hatte und die Nachtposten auf den Wachttürmen standen. Vor den Baracken lag Neuschnee, weiß, samtweich, den Schritt aufsaugend. Der Himmel war klar. Über den Wäldern glitzerten die Sterne wie vereiste Blumen.

»Angenommen, wir treten alle der KP bei«, sagte Peter Fischer und sah sich im Kreise um, »dann werden wir schnell entlassen!«

»Daß ich dir gleich in den Arsch trete, du Mistsau!« schrie Karl Georg von seinem Bett herüber. »Hast du die Schnauze vom Kommunismus noch nicht voll?!«

»Ich sage doch bloß - angenommen!« Peter Fischer hob beide Hände. »Wenn wir dann in der Heimat sind, können wir ja wieder austreten.«

»Denkste!« Emil Pelz, der Sanitäter, drehte sich eine Machorka. »Wenn die uns mal haben, behalten se uns! Det kenn ick! Zuerst kommste nach Moskau zur Schulung. Da wirste 'n guter Kommunist. Dann kommste in die Russenzone und darfst nach der Pfeife der Politmänner tanzen. Und wennste nich mehr willst, polier'n se dir de Fresse, det de nich mehr kieken kannst! Nee ... denn lieber noch 'n Jahr.«

»Es wird diesen Winter weniger zu essen geben, habe ich gehört«, warf Möller ein.

Die Nachricht wirkte lähmend. Essen . das war die Hauptsache. Solange man kauen konnte, war das Leben erträglich. Erst mit dem Hunger stellte sich die Verzweiflung ein, der Zusammenbruch, das schreckliche Ende.

»Wer sagt denn das?« zweifelte Julius Kerner.

»Der Küchenbulle, der Pjatjal! Er hat schon seine Zuteilungslisten für den Winter bekommen! Pro Mann nur einen Liter Suppe am Tag! Vierhundert Gramm Brot!«

»Das frißt ja kein Hund«, schrie Karl Georg. »Der Hund von Wor-otilow lebt besser. Der kriegt Fleisch. Habe ich selbst gesehen«, sagte Peter Fischer.

»Und wir müssen der Bascha in den fetten Hintern kneifen, um ab und zu einen Löffel Fett zu bekommen!« Julius Kerner sprang von seinem Bett herab und setzte sich an den Tisch. »Wie war das, noch mal, Peter? Die in der KP sind, die werden schneller entlassen?«

»Heißt es.«

Kerner sah sich kopfkratzend im Kreise um. »Jungs, man sollte sich das überlegen. Die eigene Haut ist wertvoller als ein dusseliges Parteibuch. Das kann man verbrennen . aber die eigene Haut bleibt! Und warum sollen wir nicht Stalin loben, wenn wir dafür mehr zu fressen kriegen und schneller zu Muttern kommen? Was später ist. Jungs, das wird sich zeigen! Das wird sich alles einspielen. Erst laßt uns mal in Deutschland sein und uns richtig 'rausfressen. Dann sieht die Welt anders aus, und wir dazu! Was wissen wir, wie es in Deutschland zugeht? Ich habe es zuletzt 1942 gesehen! Im Frühjahr! Da hatt' ich Genesungsurlaub. Nach Stalingrad schrieb mir dann meine Else, daß sie schwanger ist . dann kam die große Scheiße, und alles war aus. Ich weiß nicht mal, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden ist.«

Karl Georg sah an die Decke. In seinen Augen spiegelte sich die Heimat. Die Rhön ... das weite, wellige Land mit den glitzernden, lautlosen, riesigen Vögeln unter dem blauen Himmel . die Wasserkuppe. Die Winde des Drahtseiles knirscht ... das Segelflugzeug hebt sich empor . es schwebt in den Aufwind. Wie ein Silberpfeil gleitet es durch die Luft.

»Wir lagen unter einem Holunderbusch, das letzte Mal«, sagte Karl Georg leise. »Es war der letzte Tag des Urlaubs. Und gestöhnt hat sie.«

»Halt die Fresse!« sagte Kerner gequält.

Karl Eberhard Möller legte sich halb mit dem Oberkörper über den Tisch. Seine Augen waren verschleiert, der Blick irrte von einem zum anderen.

»Sollen wir uns alle melden?« fragte einer stockend. »Wir alle geschlossen?«

»Zur Kommune?«

»Ja. Vielleicht werden wir alle entlassen! Kinder . wir könnten Weihnachten in der Heimat sein! Unterm Weihnachtsbaum. Ich habe zwei Kinder ... sie müssen jetzt sieben und zwölf sein! Zwei Mädchen! Ich werde am Klavier sitzen, und die beiden Gören und meine Trude, die singen. Die Kerzen brennen und knistern . es riecht nach Tannen und Kuchen, Nüssen und Marzipan. Die Glocken läuten.«

»Aufhören«, schrie Julius Kerner. »Aufhören!« Er preßte beide Hände an die Ohren, über sein eingefallenes Gesicht zuckte es wie im Fieber. »Ich kann es nicht hören! Halt die Schnauze, Kerl.«

Peter Fischer kaute an der Unterlippe, sein Gesicht war weiß. Er sprang auf und ging in das Halbdunkel des Raumes zurück. Er legte sich auf sein Bett und drehte das Gesicht zur Wand. Ein Zucken und Schütteln lief durch seinen Körper.