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Nach zwei Minuten rannte Dr. Kresin wie ein Büffel über den Platz der Kommandantur. Seine Füße warfen den Schnee hoch in die kalte Luft.

Blinder Zorn tobte in ihm.

Er hatte sich vorgenommen, Worotilow zu Boden zu schlagen.

Das Außenlager Stalingrad-Stadt war in einer leeren Fabrikhalle untergebracht und umfaßte mit allen Außenkommandos 567 Mann. Hinzu kamen 45 Offiziere, die getrennt in einem Steinhaus lebten und von denen keiner sagen konnte, was sie hier in Stalingrad machten, ob und wo sie arbeiteten und wie es in dem Lagerhaus, das ihnen zugewiesen war, aussah. Nur Dr. von Sellnow pendelte zwischen Mannschafts- und Offizierlager hin und her und baute seine Sanitätsstube zu einem leistungsfähigen Revier aus. Er erhielt dabei die Unterstützung des Distriktsarztes Dr. Kresin, der ihm die nötigen Ausstattungen zuwies.

Die 567 Mann arbeiteten alle in der Fabrik >Roter Oktober<. Es war eine Stahlschmiede riesigen Ausmaßes, die neben Panzern auch Ackerschlepper, Kanonenrohre und Schiffsstahlplatten herstellte. Entstanden aus einem riesigen, unübersehbaren Gewirr von verbogenen Stahltrümmern, war die Fabrik der Stolz Stalingrads geworden, ein Wahrzeichen des Aufbaues, eine Demonstration des Lebenswillens gegen die Zerstörung. Daß gerade in der Fabrik >Roter Oktober< deutsche Kriegsgefangene und russische Politische Häftlinge arbeiteten, war eine Angelegenheit des Prestiges, wie etwa die Unterzeichnung des Waffenstillstandes mit Frankreich 1940 in dem gleichen SalonEisenbahnwagen stattfand, in dem in Compiegne 1918 die deutsche Niederlage unterschrieben wurde. So war die Fabrik >Roter Okto-ber< 1943 der heißumkämpfte Mittelpunkt und das letzte Bollwerk der deutschen Truppen in Stalingrad gewesen, aus den Trümmern und unübersehbaren Eisenhaufen und Kellern schlug den Russen bis zuletzt das Feuer der 6. Armee entgegen. In den Gewölben unter den Hallen lagen Tausende von Verwundeten. Dort standen auch Dr. Böhler, Dr. von Sellnow und Dr. Schultheiß an den Tischen und operierten tage- und nächtelang, während die Mauern von Einschlägen schwankten.

Heute ist >Roter Oktober< wieder eine riesige, modern aufgebaute Fabrik mit einem Wald rauschender Schlote, hellen, gläsernen Montagehallen und einer großen Kantine, einem eigenen Werktheater, einem Kindergarten, einem Schwimmbad und einer Bibliothek mit allen Werken des Kommunismus. Sie ist eine Burg des Glaubens an die Zukunft, ein pulsierendes Herz der Revolution . eine Kraftquelle des Ostens gegen den Westen.

Das Blut, das durch dieses Herz strömt, sind die deutschen Plen-nis und russischen Strafgefangenen, die sie aufbauten. Deutsche und amerikanische Architekten und Ingenieure, Konstrukteure und Statiker stehen in den großen Zeichensälen an den Reißbrettern und planen und bauen. Deutsche Arbeiter hocken an den Drehbänken und stehen in den Gießereien, an den Walzstraßen und Bohrern. Man murmelt sogar, daß der bis heute unsichtbare Chef des Werkes, der Dipl.-Ing. Piotr Wernerowski, ein Deutscher ist, Peter Werner aus Chemnitz. Niemand hatte bisher Dr. Wernerowski gesehen -auch Dr. von Sellnow nicht, nur unter den wöchentlichen Kampfparolen für die Kader der Arbeiterschaft stand sein Name - Dr. P. Wernerowski, eine typisch deutsche, in lateinischen Buchstaben gehaltene Unterschrift.

Das ist das Lager Stalingrad-Stadt. Ein riesiges Herz. Eine geballte Riesenfaust, die nach Westen droht. Die Stadt Stalins, an der Deutschland zerbrach.

Dr. von Sellnow stand auf dem Leninplatz vor dem wolkenkratzerähnlichen Parteihaus und blickte an der weißen Fassade empor, die das goldene Emblem von Hammer und Sichel krönte. Vor dem Eingang, zu dem eine riesige Treppe hinaufführte und dessen große Bronzetüren hinter mächtigen Säulen lagen, thronten auf hohen Sockeln Gipsstandbilder, von Stalin und Lenin.

Sellnow sah sich zu Dr. Kresin um, der hinter ihm stand.

»Gips ist vernünftig«, sagte er hämisch. »Man kann die Dinger schnell zerkloppen, wenn es mal nötig ist.« Er lachte. »Mit Eisen oder Bronze ist das schwieriger. Da weiß man nicht so schnell, wohin damit, und die Köppe rollen dann auf der Erde herum und liegen im Weg.«

Dr. Kresin schnaubte durch die Nase. »Ich bin ein Rindvieh, daß ich ausgerechnet Ihnen Stalingrad zeige. Jeder Idiot wäre dankbarer als Sie!«

»Das glaube ich Ihnen recht gern.« Sellnow sah sich auf dem weiten Platz um. Prachtbauten mit blitzenden Fensterfronten lagen in der kalten Wintersonne. Der Schnee glitzerte in kristallener Klarheit. »Nur einem Idioten können Sie erzählen, daß dies hier das wirkliche Gesicht Sowjetrußlands ist! Amerikanische Touristen werden es dankbar knipsen und zu Hause zeigen: Oh, Rußland - wonderful! Aber ich habe die andere Seite gesehen ... die stinkenden Katen in den Dörfern, die Erdhütten am Rande von Orscha, die Blechbaracken bei Minsk.«

Dr. Kresin wurde wütend. »Das sind keine Potemkinschen Fassaden. Gehen Sie doch hinein, Sie deutscher Hund! Dort wohnt man wie in einem Paradies. Und Arbeiter wohnen dort! Arbeiter! Wir sind ein Land, das die Massen liebt.«

»Vor allem, wenn sie am Eismeerkanal beim Bau der Schleusen zu Millionen verrecken.«

»Das sind Märchen! Das sind die Hetzreden der kapitalistischen Clique! Man mißgönnt Rußland den Anschluß an die Welt.«

Dr. von Sellnow lehnte sich gegen eine der Säulen, die die Kolonnaden des Parteihauses trugen. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Lammfelljacke, die man ihm aus alten Militärbeständen gegeben hatte. Sein knochiges Gesicht war von der Kälte gerötet.

»Warum schleppen Sie mich eigentlich durch diese Stadt? Wol-len Sie einen Kommunisten aus mir machen?! Das ist ein Versuch am untauglichen Objekt. Was ich vom Kommunismus weiß, genügt mir. Da helfen auch keine weißgetünchten Fassaden.«

Dr. Kresin zog aus der Tasche seiner Pelzjacke, dessen Fell er wie ein sibirischer Bauer nach außen trug, was ihm etwas Bärenhaftes verlieh, eine Schachtel Zigaretten und bot Sellnow eine an. Indem er sie ihm ansteckte, meinte er:

»Was halten Sie davon, ein großes russisches Krankenhaus zu übernehmen?«

»Nichts.«

»Wir suchen gute Ärzte. Amerikanische, englische, französische, indische, schweizerische Ärzte haben wir - warum sollen es nicht auch deutsche Ärzte sein? Ich hatte Zeit, Sie genügend zu beobachten, als Sie bei Dr. Böhler arbeiteten. Sie haben Mut, Sie sind schnell von Entschluß, Sie können etwas. Rußland könnte Sie brauchen.«

Sellnow winkte ab. »Ich bin Kriegsgefangener.«

»Das würde sofort geändert! Sie würden ins Zivilverhältnis überführt werden.« Dr. Kresin schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Denken Sie an den Fall des Gefreiten Sauerbrunn im vorigen Sommer. Wenn er wirklich der Sohn Sauerbruchs gewesen wäre, würde er jetzt längst frei sein und in Berlin. Wir Russen ehren die Größe des Geistes und wissenschaftliches Können. Und auch der Arzt ist ein Künstler - er arbeitet an lebenden Objekten.«

Sellnow warf erregt die Zigarette in den Schnee, wo sie leise zischend erlosch. Das Papier löste sich durch die Feuchtigkeit auf. Wie ein brauner Fleck lag der Tabak in dem leuchtenden Weiß.

»Das sind ja alles Dummheiten!«

»Wieso, Doktor?«

»Ich habe eine Frau und zwei Kinder.«

»Wir werden sie hierherkommen lassen. Mütterchen Rußland soll ihre zweite Heimat werden! Sie werden wie ein Russe behandelt. Sie haben in jeder Hinsicht die gleichen Rechte. Es wird Ihnen an nichts fehlen. Sie erhalten ein eigenes Haus in der Nähe der Klinik, der Staat stellt Ihnen einen Wagen zur Verfügung. Die Bezahlung ist vorzüglich. Ihre Waren bekommen Sie in den staatlichen Kaufhäusern. Sie werden sehen, daß Sie in ein Paradies gekommen sind.«

»Vielleicht in der Kalmückensteppe.«

»Wo das Krankenhaus liegen wird, das Sie übernehmen, weiß ich allerdings noch nicht. Wir haben von Moskau nur die Anweisung erhalten, die deutschen Ärzte zu veranlassen, sich zivilisieren zu lassen.«

»Nettes Wort, Dr. Kresin.« Sellnow lachte schallend. »Waren Sie schon bei Dr. Böhler?«

»Ja.« Dr. Kresin nahm eine ablehnende Haltung ein. Sein Gesicht verhärtete sich.