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»Und was sagt der Chef?«

»Er bleibt im Lager 5110/47!«

»Ach nee! Und warum?«

»Sein ärztliches Gewissen befehle ihm, sagte er, so lange bei seinen Kranken und Verletzten auszuhalten, bis der letzte deutsche Kriegsgefangene entlassen sei und keiner ärztlichen Hilfe mehr bedürfe. Für sein Lazarett ist er der Kapitän, der das Schiff als letzter verläßt.«

Sellnow sah in den fahlen Himmel. Schneewolken drohten. Der russische Winter kam aus Sibirien herüber. Morgen, übermorgen ... tagelang, wochenlang würde es jetzt schneien und frieren, die Erde würde hart werden wie Beton, und die Plennis würden umfallen in dieser Kälte und sterben mit einem letzten Seufzer auf den dünnen, verhungerten Lippen. Die Lagerlazarette würden sich füllen. Erfrierungen. Schneeblindheit. erfrorene Verletzungen. Amputationen. Elend ... lebenslängliches Leid. Der russische Winter kannte kein Erbarmen.

Sellnow schüttelte den Kopf. »Wie können Sie mich fragen, Dr. Kresin, wenn Ihnen Dr. Böhler schon geantwortet hat.«

»Ich dachte, Sie würden anders denken.«

»Ich? Wollen Sie mich beleidigen?! Sie können Rindvieh und Hund, Aas und Saustück zu mir sagen - ich antworte Ihnen mit noch schöneren Worten. Aber meinen ärztlichen Stand und mein ärztliches

Gewissen lasse ich mir nicht antasten, und wenn ich dabei vor die Hunde gehen sollte!«

Dr. Kresin sah in die Luft. Um seine Nase hatte sich der Atem zu einer leichten Eisschicht verdichtet.

»Ich dachte dabei auch an Alexandra Kasalinsskaja.«

Sellnows Miene wurde starr. Seine Augen verschwanden hinter den Lidern. »Was ist mit ihr?«

»Ich würde sie Ihnen als Oberärztin zuteilen.«

Sellnow winkte ab. »Das wäre mein Ende. Es wäre mein Tod.«

»Vergessen Sie nicht, daß wir Ihre Frau und die Kinder nachkommen lassen.«

»Dann würde ein Drama daraus werden! Alexandra ist wie eine rassige Stute. Wenn ein Mann sie ansieht, kann er gar nicht anders, als sie nehmen. Es ist, als ob die Natur in diesem Falle wieder ur-haft würde. Daß Sie mich nach Stalingrad versetzten, Dr. Kresin, empfand ich in den ersten Tagen als das schlimmste Unglück seit meiner Gefangennahme. Ich habe getobt und in der Nacht nach der Kasalinsskaja geschrien. Aber jetzt bin ich froh darüber. Sie haben mich von einer Fessel befreit, die mich erdrückt hätte. Es ist vielleicht das erstemal, daß ich Ihnen für etwas wirklich dankbar bin.«

Dr. Kresin schob die Unterlippe vor. Er sah aus wie ein spuckender Affe. »Sie irren, Doktor. Sie brauchen mir auch heute nicht zu danken. Ihre Versetzung verfügte Major Worotilow seinerzeit auf eindringliches Bitten von Dr. Böhler.«

»Der Chef..?« Sellnow sah vor sich hin in den Schnee. Mit den Schuhspitzen vergrub er die aufgelöste Zigarette. »Er hat nie mit mir wegen Alexandra gesprochen . aber er hat es gewußt. Dr. Kre-sin, ich gestehe es: Mir würde etwas im Leben gefehlt haben, hätte ich Dr. Böhler nicht kennengelernt.«

»Das habe ich auch zu Worotilow gesagt.«

»Sie auch, Kresin?« Er sah zu dem großen russischen Arzt auf. »Mein Gott, ich entdecke ja eine menschliche Seite bei Ihnen.«

Dr. Kresin verzog den breiten Mund. Sein Gesicht wurde rot.

»Dann vergessen Sie es schnell wieder, Sie deutsches Schwein«, und Sellnow lachte so laut, daß die Leute, die in das Parteihaus gingen, sich erstaunt nach den beiden Männern umblickten. Es begann zu schneien. Still und samtweich. Die dicken, weißen Flocken rieselten auf die Erde. Der Himmel war dunkelgrau. Von den Fabriken herüber gellten die Sirenen.

Mittagspause.

Dr. Kresin sah Sellnow an. »Gehen wir?«

»Ja.«

»Und mein Angebot?«

Sellnow steckte beide Hände in die Taschen. »Denken Sie einfach, Sie hätten es mir nie gemacht.«

Im Lager 5110/47 erschien wieder der politische Kommissar Wadislav Kuwakino. Er stand eines Morgens vor der Kommandantur im Gespräch mit Leutnant Markow und dem Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi.

Durch die Baracken geisterten die Flüsterparolen.

Er kommt wegen der Meldungen zur KP!

Es wird Ernst.

Peter Fischer und Julius Kerner sahen hinüber zu Karl Georg, der seit dem Einsetzen des Schneefalls arbeitslos geworden war, seinem Garten nachtrauerte und meistens auf der Pritsche lag und an die Balkendecke döste. Ab und zu ging er zur Latrine und blieb dort über eine Stunde hocken, las in der Prawda, die ihm ein russischer Posten schenkte, und begann, seine russischen Sprachkenntnisse zu vervollständigen.

»Der Kommissar ist da«, sagte Kerner unsicher.

»Hm.«

»Du hast dich doch auch gemeldet.«

»Ja.«

»Jetzt werden wir Kommunisten!«

Peter Fischer lachte gequält. »In der Heimat war ich Scharführer der SA.«

Karl Georg winkte von seinem Bett aus ab. »Danach werden sie nicht fragen. Es geht ihnen darum, daß sie für Deutschland Propagandisten bekommen! Ich habe gehört, daß wir alle nach Moskau und Molotow auf eine Schule kommen sollen - auf eine Komsomolzenschule.«

»Wie heißt das Biest?« fragte Kerner kritisch.

»Komsomolzen. Das ist eine Abkürzung von Kommunistitscheskij sojus molodeschi.«

»Meine Fresse!« sagte Peter Fischer erschüttert.

»Das ist so eine Jugendorganisation wie die HJ. Dort werden die Jungkommunisten ausgebildet und politisch gedrillt. Wenn wir das hinter uns haben, lassen sie uns auf die Menschheit los.«

»In die Heimat?«

»Nehme ich an.«

Peter Fischer schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Dann ist mir alles egal! Ich mache alles mit, wenn es nur nach Deutschland geht.«

»Komsomolzen«, sagte Julius Kerner sinnend. »Was wird meine Frau sagen, wenn ich als hundertprozentiger Kommunist nach Hause komme?«

»Die wird gar nichts sagen und dich zu sich ins Bett nehmen.« Karl Eberhard Möller, der gerade vom Küchendienst eintraf, warf seine verschneite Pelzmütze an den Ofen. Er lachte und legte eine Dose Rindfleisch, amerikanischen Ursprungs, auf den Tisch. »Hat einer von euch 'nen Büchsenöffner?«

Kerner wog die Büchse in der Hand und lachte: »Geklaut?«

»Die hat mir die Bascha gegeben.«

Karl Eberhard Möller begann, mit einem Messer den Blechrand aufzustemmen.

Solange man aß, sprach keiner mehr über den Kommunismus.

In der Barackentür erschien kurz darauf der Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi. Er überblickte den Raum, übersah die Fleischdose und wischte sich mit der Zunge über die Lippen.

»Nach dem Mittagsappell bleiben alle im Lager, die sich für die Partei gemeldet haben«, schrie er übermäßig. »Die anderen gehen zur Arbeit. Um drei Uhr ist Antreten auf dem Platz für alle Parteianwärter! Verstanden?«

Da keiner in der Baracke antwortete, schrie er noch einmaclass="underline"

»Verstanden?!«

»Leck mich am Arsch!« rief einer aus der dunklen Ecke zurück.

»Na also.« Utschomi lächelte schwach. Hinter seinem schmalen Rücken krachte die Balkentür zu. Einen Augenblick wehte Kälte über die Tische, die der Tür am nächsten standen. Julius Kerner zog die Schultern zusammen.

»Es wird wirklich Ernst«, sagte er schwach. Er schob die Fleischdose weg - es schmeckte ihm nicht mehr.

Karl Georg sprang von seinem Bett auf und machte ein paar Kniebeugen. Die Beine waren ihm vom Liegen eingeschlafen.

»Jetzt macht sich der Julius vor Angst in die Hosen«, bemerkte er dabei.

»Du etwa nicht?« schrie Peter Fischer zurück.

Georg hob die Schultern an. »Warum, Jungs? Dreckiger als hier kann es uns nirgendwo gehen! Und wenn wir krepieren sollen . ob in Stalingrad, in Moskau, in Molotow oder wer weiß wo . das ist doch wurscht! Immerhin ist dieser Parteirummel noch eine leise Hoffnung, aus dem Dreck herauszukommen. Wir müssen nur stur sein und zeigen, daß wir wirkliche Kommunisten sind.«

Karl Eberhard Möller zog Filzstiefel und Fußlappen aus und häng-te sie über den Ofen. Der Geruch der trocknenden Lappen zog ätzend durch die Baracke.

Julius Kerner sah erschrocken zur Tür, die wieder mit einem kalten Luftzug aufschwang. Hans Sauerbrunn, der Mann mit der neuen Boxernase, trat frierend ein. Er schlug die Arme gegen seine Brust und ließ sie in der Wärme der Baracke wie Flügel kreisen. Er kam von einem Schneeschaufel-Kommando, das die Zufahrtstraße zum Lagertor schneefrei zu halten hatte. Es war ein begehrtes Kommando, denn die Posten in den Wachstuben gaben manche Zigarette ab.