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Es waren meist gutmütige Tataren, die nur zu Tieren wurden, wenn sie die wöchentliche Wodkazuteilung in einer Stunde versoffen.

»Was Neues?« rief ihm Peter Fischer entgegen.

»Der Kommissar stellt Listen zusammen. Ich habe es durch das Fenster gesehen. Worotilow ist auch bei ihm.«

Julius Kerner schob Sauerbrunn die Fleischbüchse hin und einen Löffel. »Von Möller. Hat er von der Bascha. Uns ist der Appetit verdorben.«

»Wegen Kuwakino?«

»Auch. Wir müssen uns erst daran gewöhnen, ab morgen Kommunisten zu sein.«

Sauerbrunn aß die Büchse leer und wischte sich mit dem Ärmel seiner Steppjacke über den Mund. Dann drehte er sich aus Zeitungspapier und alten Kippen eine Zigarette und steckte sie mit einem Fidibus an, den er an dem Ofen aus Lehmziegeln entzündete.

»Ich habe gehört, daß in anderen Lagern schon die neuen Kommunisten abtransportiert werden. Es geht alles sehr schnell. Aber keiner wußte, wohin sie kamen. Mit allen Sachen antreten, hieß es. Dann wurden sie auf Lastwagen geladen und weggefahren.«

»Hört sich wie ein Transport ins Krematorium an«, bemerkte Peter Fischer, und Julius Kerner schluckte schweigend.

»Wenn wir da bloß keine Dummheit gemacht haben.«

Karl Georg schüttelte den Kopf. »Man muß nur auf Draht sein und die Augen offenhalten«, sagte er. »So leicht haut man einen deutschen Oberschnäpser nicht um.«

Wieder kam Jakob Aaron Utschomi in die Baracke. »Wir brauchen fünf Mann für Schreibarbeiten!« sagte er laut.

»Los! Melden!« zischte Karl Georg.

Möller, Sauerbrunn, Kerner, Georg und Fischer traten vor. Uschomi musterte sie.

»Ihr!« Er grinste. »Die Auslese der deutschen 6. Armee.«

Die fünf überhörten es. Sie sahen an die Decke und grinsten mit.

»Na, kommt schon!« Utschomi, der kleine Jude, war ein guter Kerl.

Er war beliebt und fühlte mit den Plennis. »Könnt ihr denn überhaupt schreiben?« fragte er, während sie über den verschneiten Platz gingen.

»Daß sie dir gleich an die Birne hauen!« sagte Peter Fischer fröhlich. »Wir haben anderes gelernt, als im Ghetto die Menschen zu bescheißen.«

Der Jude Utschomi lächelte zurück. Er hatte es sich abgewöhnt, jemals etwas übelzunehmen. Was nützte es auch, sich aufzuregen. Gott hatte seine Rasse und sein Volk verflucht . und er litt mit orientalischem Gleichmut und war glücklich, wenn ihn niemand tätlich angriff.

Vor der Kommandantur baute Utschomi die fünf im Schnee auf und ging in das Haus.

»Gleich spielen wir Schneemann«, meinte Karl Georg. Er klopfte den Schnee aus seinen Haaren. In der Eile hatte er vergessen, seine Mütze mitzunehmen.

Der riesige Wald stand wie eine weiße Kulisse am Horizont und schien sich im Grau des niedrigen Himmels aufzulösen.

Aus der Kommandantur trat Major Worotilow. Er musterte die fünf Freiwilligen und nickte.

»Hereinkommen«, sagte er ziemlich freundlich. Und als sie in den Vorraum kamen und den Schnee abschüttelten, meinte er ernst: »Soll ich euch vereidigen, oder haltet ihr so die Schnauze?«

Karl Georg schüttelte den Kopf. »Es wird auch so gehen, Genossen, was?«

Worotilow riß die Augenbrauen hoch. Einen Moment überzog Verblüffung sein dickes Gesicht. Dann lächelte er und klopfte Georg auf die schmale Schulter.

»Ihr seid verfluchte Kerle . Genossen.«

Nur Julius Kerner hörte den Doppelsinn heraus. Er wurde blaß vor Angst.

Seit dem Weggang Dr. von Sellnows war die Kasalinsskaja von Tag zu Tag hysterischer geworden. Sie konnte ihr Kopfkissen zerfetzen und sich darüber wundern, warum sie es tat. Sie biß sich die Lippen blutig und staunte, daß sie bluteten. Dr. Böhler sah es mit Schrek-ken. Kresin hatte einmal zu ihm gesagt: »Wenn die Kasalinsskaja Sellnow nicht wiederbekommt, wird sie verrückt«, aber er hielt das für eine der massiven Übertreibungen des russischen Arztes. Jetzt sah er mit Schrecken, welche Formen die Nymphomanie der Ka-salinsskaja annahm.

»Wir können Sellnow unmöglich wieder zurück ins Lager holen«, sagte er zu Dr. Kresin. Sein Gesicht war in den Sommermonaten noch schmaler geworden, die Nase saß darin wie ein scharfer Haken. Die Bräune, die sein Aufenthalt im Lager 12 mit sich gebracht hatte, belebte noch die Haut. »Wenn wir ihn wieder mit der Kasalinsskaja zusammenbringen, ist es unmöglich, dieses Verhältnis vor aller Welt zu verbergen. Der erste, der es erfahren würde, wäre Markow. Und er würde mit Wonne dafür sorgen, daß in Moskau unser Lager gestrichen wird. Es ist ganz unmöglich.«

»Alexandra wird uns noch die Wände hochgehen.« Kresin rauchte erregt seine orientalischen, starken Zigaretten. Er sah Dr. Böhler hilflos und flehend an. »Der Teufel kenne sich mit den Weibern aus!«

»Versetzen Sie sie doch.«

»Das möchte ich Ihren Kameraden nicht antun.«

Dr. Böhler zog die Augenbrauen hoch. »Wieso?«

»Wenn ich die Kasalinsskaja versetze, ist das, als ob man einen wilden Tiger in Freiheit setzt. Sie würde in ein anderes Gefangenenlager kommen und dort mit einer Rücksichtslosigkeit herrschen, die an organisierten Mord grenzt. Es gäbe überhaupt keine Kranken mehr, sondern nur Lebende und Tote! Gott sei's geklagt, wir kennen ja das verdammte Weibsstück! Und seitdem die Janina wieder so krank ist, hat sie einen Haß auf alle Männer bis auf den, zu dem sie ins Bett kriecht.«

Dr. Böhler kaute an der Unterlippe. Nervös zerdrückte er die hal-bangerauchte Zigarette. »Nymphomanie ist eine unheilbare Krankheit, ich weiß. Es gibt da moderne Arten von Hormonbehandlungen, aber was nutzt uns das an der Wolga? Wissen Sie einen anderen Weg als den, Sellnow zurückzuholen?«

Dr. Kresin zuckte mit den Schultern. »Wenn der Bock nicht zur Ziege kommt, muß die Ziege zum Bock! Wir werden die Kasalinsskaja zwei Wochen beurlauben und nach Stalingrad schicken. Dort wird sie den armen Sellnow schon noch kriegen.«

»Ihre Ausdrucksweise ist ordinär«, sagte Dr. Böhler verschlossen.

»Das ganze Leben ist ordinär!« Dr. Kresin spuckte ins Zimmer. Ein Faden des süßlichen Tabaks hatte sich aus dem Mundstück der Zigarette gelöst und war auf seine Zunge geraten. »Nur wir Gebildeten machen um das Ordinäre des Lebens einen Samtmantel und kleiden das Schwein in Seide und Spitzen. Der Primitive sagt und sieht es so, wie es ist. Und ich bin noch so herrlich primitiv.«

Es klopfte. Dr. Kresin öffnete selbst und sah auf den kleinen Aaron Utschomi herab, der für den Kommissar wie ein Stift im ersten Lehrjahr hin und her jagte.

»Dr. Böhler soll zum Kommandanten kommen! Die neuen Kommunisten werden untersucht.«

»Wie nett.« Dr. Kresin schlug die Tür zu und ließ Utschomi draußen stehen. »Es haben sich aus unserem Lager 392 Mann gemeldet, die ihr Herz für Väterchen Stalin entdeckten.« Er sah Dr. Böhler an. »Warum Sie eigentlich nicht unser Angebot annehmen.«

»Sie kennen meine Ansicht, Dr. Kresin. Wir brauchen gar nicht mehr darüber zu reden.«

»Es ist ein Armutszeugnis für uns, daß wir Ihren Stolz in all den Jahren noch nicht gebrochen haben. Selbst Waldlager 12 war eine leichte Pille für Sie!«

»Eine ziemlich schwere.« Dr. Böhler knöpfte seine Steppjacke zu und setzte die Ohrenmütze auf. »Sie hat mich erst richtig dazu bewogen, so lange zu bleiben, bis der letzte in der Heimat ist oder mit mir hinausfahrt aus Ihrem grauenhaften Rußland.«

»Für das >grauenhaft< müßte ich Ihnen eine Ohrfeige geben.«

»Aber Sie tun es nicht. Im Grunde sind Sie europäischer, als Sie es sich selbst eingestehen! Sie wären ein gutes Beispiel für einen Psychologen.«

Dr. Kresin hob die Augen zur Decke und seufzte tief.

»Daß man Sie nicht umbringen darf..«, murmelte er.