Zusammen stapften sie durch den Schnee der Kommandantur zu. Der Wind trieb ihnen die Flocken peitschend ins Gesicht. Sie duckten sich tief und stemmten sich dem Wind entgegen. Die Wachttürme, die Baracken, die Küche - alles lag wie hinter einem dichten Schleier. Die Spuren ihrer Füße verwehten sofort und füllten sich mit neuem Schnee.
Vor der Kommandantur standen in langen Reihen die Plennis im Schneesturm. Sie froren und zitterten und drängten sich eng zusammen, um sich zu wärmen. Wie ein verschneiter Hügel sahen sie aus.
Dr. Kresin nickte mit dem Kinn zu ihnen hin.
»Die neuen Kommunisten. Ein kleiner Vorgeschmack zur Eignungsprüfung. Erst frieren sie, dann wird ihnen eingeheizt. Kommissar Kuwakino hat alte, erprobte Methoden der Auslese.« Er lachte dröhnend. »Der Dienst bei Mütterchen Rußland ist ebenso schwer wie der der Eunuchen im alten China.«
Aus dem Vorraum der Kommandantur schlug ihnen heiße Luft entgegen und nahm ihnen einen Augenblick den Atem.
Major Worotilow trat aus seinem Zimmer und nickte ihnen zu. Dabei fiel sein Blick auf die zitternden Gestalten vor dem Haus, auf diesen Haufen Leben im Schneesturm. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf. Sein Gesicht war verschlossen, als er sich Dr. Böhler zuwandte.
»Sie werden die Kerle dort untersuchen. Kleinste Fehler und Krankheiten scheiden aus! Ich bitte um strengste Maßstäbe.«
»Um kasalinsskajanische Maßstäbe?« fragte Dr. Böhler.
Worotilow wandte sich ab und schwieg.
Kommissar Wadislav Kuwakino sah Dr. Böhler aufmerksam entgegen, als sie das große Zimmer betraten. Die fünf Schreiber schnellten empor und nahmen stramme Haltung an. Dr. Böhler überflog sie mit einem Blick. Die? dachte er. Die führen die Listen?
Er hatte plötzlich keine Sorge mehr, ungerecht sein zu müssen. Und er übersah - vielleicht zufällig - die Hand, die ihm Kommissar Kuwakino entgegenstreckte.
»Fangen wir an«, sagte er. »Sonst kann ich die Hälfte mit Erfrierungen ins Lazarett schicken.«
Wadislav Kuwakino nickte wütend, mit zusammengebissenen Zähnen. Schnell zog er seine Hand zurück.
AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:
Seit Tagen hält der latente Zustand an.
Janina ist apathisch und geduldig. Sie läßt sich untersuchen, spricht mit Worotilow, wenn er sie besucht, kein Wort und sieht mich an wie ein verwundetes Tier.
Ich kann ihr nicht helfen, wenn sie selbst keine Lust mehr zum Leben hat. Ihr Körper könnte gesunden, aber ihre Seele ist krank, und von innen stirbt sie ab, während ihre Augen lächeln.
Dr. Kresin tobte gestern mit mir. Er gab mir alle Schuld, bis er sich erinnerte, daß er es war, der mich damals mit zu Janina in die Tingutaskaja 43 nahm, um mein Urteil über ihre Tbc zu hören. »Der Oberarzt macht die Kasalinsskaja hysterisch, der Unterarzt bringt die Janina vor Liebeskummer ins Grab! Was ist das für ein Lager! Mensch, man könnte die Wände hochgehen.«
Vergeblich hatte er versucht, mit Janina zu sprechen. Es war unmöglich, die Worte drangen nicht bis zu ihr. Kresin hatte gedroht, er hatte gefleht - schließlich war er zu mir gelaufen und hatte gebrüllt: »Sie Idiot, tun Sie der Janina doch den Gefallen und lieben Sie sie! Ich werde dafür sorgen, daß Worotilow euch nicht stört! Aber retten Sie mir das Mädchen, verdammt noch mal!«
Janina lieben.
Wie leicht er das sagte. Iß ein Brot, klang genauso. Oder: feg die Latrine. Mein Gott, sind wir geschmacklos geworden in den Jahren der Gefangenschaft. Unsere Herzen sind voll von Sehnsucht und Träumen, aber unsere Taten sind klein und armselig und überschattet von der Angst, nie mehr die Heimat zu sehen. Wir sagen es nicht . wir erzählen uns, wie schön es wird, wenn wir wieder in Deutschland sind, was wir alles tun und wie wir das Leben neu anfassen und wieder von vorn beginnen werden. Wir sprechen so viel von der Rückkehr, wir träumen von ihr, von den Frauen und Kindern, Müttern und Bräuten, den Schwestern, Brüdern, Vätern. Sie alle kehren wieder in unseren Worten, und wir freuen uns an diesen Gedanken und glauben an das Morgen. Aber wenn wir dann auf dem Strohsack liegen und über uns ist die Balkendecke der Baracke, wenn draußen der Schneesturm heult und die Wände vor Kälte knistern, dann werden wir schwach und elend und haben tief im Herzen doch keine Hoffnung mehr.
Wir geben es nicht zu, weil wir uns unserer Schwachheit schämen, und wenn wir unsere monatliche Karte nach Hause schreiben, von der wir nicht einmal wissen, ob sie überhaupt ankommt - denn eine Antwort erhalten wir nie -, dann schreiben wir, daß wir bald nach Hause kommen. Bald . das ist ein relativer Begriff, dehnbar wie Gummi. An dieses Bild klammern wir uns, auch wenn wir nicht mehr daran glauben.
Was wird, wenn ich Janina liebe und dann entlassen werde? Ich kann sie doch nicht mitnehmen. Und ich weiß, daß wir uns nie, nie vergessen werden, wenn wir uns einmal gehört haben, daß wir daran zugrunde gehen, sie und ich.
Dr. Böhler ist drüben auf der Kommandantur. Er untersucht die Männer, die sich für den Eintritt in die KP gemeldet haben. Arme Kerle, die hoffen, damit ihre Leidenszeit abkürzen zu können. Der Russe weiß das auch, und er wird sie danach behandeln. Er wird sie treten und knechten, bis sie aufschreien und alles wieder von sich werfen. Dann wird es heißen: Ihr habt die Partei verraten! Ihr habt revoltiert gegen den Arbeiterstaat! Dreißig Jahre Zwangsarbeit! Und wieder marschieren Tausende in die Sümpfe und ans Eismeer, in die Urangruben von Swerdlowsk und Ufa, in die Bergwerke und die Kraftstationen von Irkutsk. Futter für den Moloch Rußland, Treibriemen für den Motor der Weltrevolution. Es ist zum Heulen, wenn man diese Männer sieht, die frierend im Schnee stehen und auf die Schlachtbank warten. Es half nichts, ihnen zuzureden ... sie waren besessen von dem Glauben: Wir kommen früher in die Heimat! Auch Emil Pelz, unser Sanitäter, ist dabei. Der gute Kerl hofft, seine Frau in Berlin wiederzusehen.
Überall, wo man hinsieht, ist Hoffnung.
Sellnow hat gestern geschrieben. Einer der Männer, die in der Fabrik >Roter Oktober< arbeiten, brachte das Schreiben mit - er schmuggelte es durch die Torkontrolle, indem er den Brief zwischen seine Schenkel band.
Sellnow liegt seit zwei Tagen im Bett. Man weiß nicht, was es ist ... eine Infektion, eine Vergiftung ... sein Körper wurde plötzlich schlaff, die Beine knickten ein, er fiel in den Schnee und mußte von seinen Sanitätern in das behelfsmäßige Lazarett getragen werden. Dort begann er, sich selbst zu untersuchen, stellte Reflexstörungen fest und eine leichte Sehstörung. Die tieferen Ursachen dieser Funktionsausfälle konnte er nicht ergründen und ließ sich ins Bett tragen, wo er verbissen die Ereignisse der letzten Tage prüfte, um irgendwo einen Anhalt für eine Vergiftung oder eine Infektion zu entdecken.
Dr. Kresin, der ihn am Tage darauf besuchte, fand ihn im Bett sitzend und schimpfend. Vor seinem Bett standen die Soldaten, die sich krank gemeldet hatten. Einer nach dem anderen mußte sich vor ihm auf das Bett legen, er klopfte den Brustkorb ab und diktierte den Sanitätern die Diagnosen und Therapien.
Der Kommandant des Außenlagers Stalingrad-Stadt, ein junger russischer Leutnant aus der Komsomolzenschule, lehnte an der Wand und sah diesem Treiben grinsend und rauchend zu.
Dr. Kresin warf alle Gefangenen aus dem Zimmer und begann dann, Sellnow selbst eingehend zu untersuchen. Aber auch Kresin konn-te nicht feststellen, woher diese plötzliche Schwäche kommen konnte, und machte den Vorschlag, Sellnow zur Beobachtung in die staatliche Klinik von Stalingrad zu bringen.
»Als ob die da mehr könnten als Sie«, murrte Sellnow. »Ihr könnt nämlich alle nichts.«
Kresin setzte sich auf die Bettkante und nickte schwer.
»Man sollte Sie liegenlassen«, meinte er.
»Tun Sie's doch.«
»Man ist idiotisch, daß man sich mit Ihnen überhaupt befaßt.«
»Ich habe Sie nicht gerufen. Ich werde hier allein fertig. Und wenn ich nicht mehr kann, gebe ich Nachricht.«