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Dreizehn, dachte Worotilow. Die Unglückszahl für die, die reif für die Komsomolzenschule sind. Er versuchte, das Verhältnis zwischen den schon ausgesprochenen Zwölf und Dreizehn festzulegen und kam zu der Überzeugung, daß Dr. Böhler nach russischen Grundsätzen auf dem besten Wege war, die Kommunistische Partei zu sabotieren.

In Worotilow rang der Kommunist mit dem Menschen, der Russe mit dem Freund des Deutschen. Er hätte aufspringen können und dieses offensichtliche Theater der Untersuchung einfach abbrechen lassen, diese Komödie, die dem ahnungslosen Kuwakino vorgespielt wurde und ein Schlag ins Gesicht der russischen Ideologie bedeutete. Aber er tat es nicht - irgendein inneres Gefühl hinderte ihn daran. Er sah auf die lange Reihe der noch im Schnee Wartenden, sah sie zuschneien wie kleine, abgestorbene Büsche und empfand in der unentdeckten Seele so etwas wie Mitleid mit diesen Menschen, die der Glaube an Versprechungen in die Arme eines unersättlichen Molochs führte.

Der Kommissar beobachtete die Handlungen des Arztes von jetzt ab scharf. Aber er bemerkte keine Verfehlungen und schien zufrieden zu sein. Mit einem fast sadistischen Blick musterte er die in die Stube Stolpernden, die den Schnee abklopften und sich vor Kälte zitternd entkleideten. Ihre mageren Körper, ihre gelbweiße Haut, ihr sichtbares Gerippe schrie das Elend hinaus, in dem sie seit Jahren lebten.

Wadislav Kuwakino kannte kein Mitleid. Er kannte nur Befehle aus Moskau und das Parteiprogramm. Die Deutschen sind nicht wert, daß man sie begräbt, hatte er selbst auf einer Kommunistenversammlung in Gorkij gerufen. Laßt die Leichen liegen und verfaulen - sie düngen den russischen Boden, auf dem der Weizen wächst, der euch groß und stark für die Weltrevolution macht! Habt kein Mitleid für diese westlichen Hunde, knechtet sie, schlagt sie nieder, tötet sie! Die Winde des Ostens werden über Europa wehen und die Fahnen der Kapitalisten von den Stangen reißen!

Der Kommissar lächelte zufrieden. Er konnte reden. O ja, das konnte er. Er war ein guter Diener der Sowjets, ein Trommler vor dem Wagen Stalins. Und darauf war er stolz.

Dr. Böhler sah auf die Küchenuhr, die auf dem Tisch hinter Major Worotilow stand. Vier Stunden Untersuchung. Vier Stunden standen sie draußen im Schneesturm. Wenn sie dann hereingerufen wurden, waren sie halb erfroren und unfähig, die Arme hochzuheben. Sie kamen mit blauroten Gesichtern in das Zimmer und fielen fast zusammen, als ihnen die Wärme wie ein Fausthieb entgegenschlug. In ihren Augen stand die Qual der hilflosen Kreatur, vermischt mit der Reue, sich in die Hände des Kommissars gegeben zu haben.

Dr. Böhler biß die Zähne zusammen.

»Zwölf!« sagte er gepreßt. »Zwölf - zwölf - zwölf - zwölf!«

Major Worotilow wurde unruhig. Er hob die rechte Hand und sah den Kommissar an. »Sollen wir nicht eine Pause einlegen, Genosse Kommissar? Wir haben noch den ganzen Nachmittag vor uns, und Genosse Pjatjal hat in der Küche einen Hasen für Sie gebraten.«

Der Kommissar nickte. Einen Hasen bekam er in Moskau nicht so leicht, er war sehr teuer in den staatlichen Geschäften und kam nur auf die Tafel der oberen Funktionäre. Er nickte deshalb noch einmal und wandte sich an Dr. Böhler.

»Um drei Uhr wieder!«

Der Arzt steckte das Stethoskop in die Tasche und nahm seine wattierte Steppjacke auf. Peter Fischer rannte in die Ecke und brachte ihm die von Leutnant Markow weggeworfene Pelzmütze. Bewußt stramm, mit laut knallenden Hacken, überreichte er sie Dr. Böhler. Der Kommissar kniff die Augen zusammen und musterte den Gefangenen. Dann winkte er Major Worotilow zu. »Gehen wir«, sagte er. »Es ist schrecklich für mich, soviel deutschen Geruch einatmen zu müssen.«

Er ging an Dr. Böhler vorbei, ohne ihn zu beachten. Er hätte ihn umgerannt, wenn der Arzt nicht einen Schritt zurückgetreten wäre.

Wadislav Kuwakino lächelte im Hinausgehen.

Er hat meine Hand verschmäht, ich habe es ihm heimgezahlt. Er sollte vorsichtiger sein, dieser deutsche Arzt! Nicht alles erfährt Moskau, und am besten schweigen die Toten.

Alexandra Kasalinsskaja schlief seit Sellnows Weggang wieder ordnungsgemäß im Kommandanturgebäude. Sie lehnte im Morgenmantel am Rahmen des Fensters und blickte hinaus in die wirbelnden weißen Flocken. Der Schneesturm verhinderte ihre Fahrt zu den Außenlagern. Heute stand Lager 12 auf dem Plan, und sie stellte sich vor, wie der Feldwebel bis acht Uhr gewartet hatte, um dann die sich krank Meldenden wegzuschicken und die Kolonnen in die Wälder zu treiben. Das Holz mußte jetzt wie Eisen sein ... die Äxte sprangen ab, als hieben sie auf Stahl, es war eine furchtbare Arbeit für

die halbverhungerten und frierenden Männer im Schneesturm.

Sie erinnerte sich an den Winter 1946, als sie im Lager 5110/36 bei Workuta, östlich des Urals, Gefangene untersuchte. Damals heulten die Wölfe rund um das Lager, die Kälte fraß sich durch alle Wände und Pelze, die Öfen waren machtlos vor der Gewalt der Natur, und die Deutschen lagen auf dem Boden der Baracken und schrien vor Schmerzen. Die Glieder froren ihnen ab ... Hände, Finger, Nasen, Ohren, ganze Arme . es wurde nur amputiert . rücksichtslos, ohne Mitleid . was sollten sie auch anderes tun, als diese abgestorbenen Glieder abzutrennen, es blieb ja keine Wahl zwischen Tod und Krüppel. Als der Frühling kam, war das Lager nur noch ein großes Grab. Die Inspektion aus Moskau zog sich schnell zurück, als sie die Listen und den Haufen Elend sah. Das Lager wurde frisch gefüllt . es kamen siebentausend neue Deutsche, aus Swerd-lowsk, aus Interabes, Werchne Uralsk und Schtscherbakow.

Und heute schneite es - auch über Workuta -, und siebentausend Deutsche lagen um die Öfen und zitterten.

Alexandra wandte sich um und warf den Morgenmantel ab. Sie zog das Nachthemd über den Kopf und stand nackt im Raum. Ihre Brüste wölbten sich, als sie die Arme in die Luft streckte. Es war das Recken eines Tieres, schön wie die Wildnis, kraftvoll, edel und durchpulst von Rasse. Sie sah sich im Spiegel an und dachte an Sell-now. Ein Schauer überflog sie . sie drückte die Zähne in die Lippen und fuhr sich streichelnd über die Brüste. Das Gefühl, schreien zu müssen, nahm ihr den Atem. Keuchend ließ sie sich auf das Bett fallen und vergrub das Gesicht in den Kissen.

So traf sie Dr. Sergeij Basow Kresin an, als er ohne anzuklopfen eintrat.

Einen Augenblick blieb er verblüfft an der Tür stehen. Dann setzte er sich räuspernd auf einen Stuhl und lächelte sarkastisch, als Alexandra herumfuhr und das Bettuch über ihre Blöße zog.

»Bei der Morgengymnastik, Täubchen?« fragte Dr. Kresin ironisch. »Ein wenig anstrengend, finde ich.«

»Warum haben Sie nicht angeklopft? Was wollen Sie hier?« schrie ihn die Kasalinsskaja an. In ihren Augen flackerte der Jähzorn. Sie wickelte sich in das Laken und setzte sich auf den Bettrand.

»Was wollen Sie?!« schrie sie wieder. Das dünne Leinen klebte auf ihrem nackten Körper.

»Ich wollte Ihnen sagen, daß Sie krank sind, Alexandra.«

Sie lachte schrill auf und warf die Beine auf das Bett. Sie lag jetzt halb, nur der Oberkörper und der Kopf waren aufgerichtet.

»Was soll ich haben?«

»Eine innere Krankheit. Außerdem sind Sie sehr überarbeitet. Sie brauchen Ruhe!« Dr. Kresin kniff die Augen zusammen. »Was halten Sie von einer Ausspannung? Von Ferien? Sagen wir zwei Wochen.«

»Im Winter?« Alexandra sah Dr. Kresin mißtrauisch an. »Im Schneesturm?«

»Schneeluft ist rein und gesund.«

»Sie wollen mich abschieben, Genosse Kresin?«

»Alexandra.« Dr. Kresin hob beschwörend beide Hände. »Sie sind uns unentbehrlich. Aber Ihre Gesundheit geht uns vor! Sie haben in der letzten Zeit sehr nachgelassen - nicht in der Arbeit, das will ich damit nicht sagen, aber im Aussehen. Ihre Nerven machen nicht mehr mit. Ich werde Sie für vierzehn Tage nach Stalingrad schicken, in unser Erholungsheim.«

Die Kasalinsskaja zuckte mit den schönen bloßen Schultern. Sie waren ein bißchen gelblich ... ihr ganzer Körper war es, eine Haut wie eine Kalmückin, wie eine Mandschufrau - gelbliches Weiß von porzellanhafter Zartheit und Durchsichtigkeit.