»Wenn Sie es so wollen, Genosse Kresin«, sagte sie mit gelangweilter Stimme. »Wann soll ich fahren?«
»Am besten übermorgen. Dann hat sich der Sturm gelegt. Ich bringe Sie selbst hin, Alexandra.«
»Das ist nett.« Sie lächelte rätselhaft. »Irre werden immer von ihren Ärzten begleitet.«
»Was Sie nur haben.« Er erhob sich und gab ihr die Hand. Ihre Finger waren kalt, wie abgestorben, und er hätte geschworen, daß sie heiß sein müßten. Ein leichtes Zittern ließ ihre Hand erbeben. Sie hat sich gut in der Gewalt, stellte er fest. Nur wenn sie allein ist, bricht sie zusammen. Sie hat die Achtung vor sich selbst verloren, das wird es sein. Sie schlägt über sich selbst zusammen wie Wellen an einer Klippe.
Als er hinausgehen wollte, hielt ihn ihre Stimme fest.
»Wie geht es Dr. von Sellnow?« fragte sie.
»Verhältnismäßig gut. Wir nehmen an, daß es eine Vergiftung war.«
»Eine Vergiftung? Wie kommen Sie darauf?« Ihr Blick wurde starr.
»Wegen der Symptome, Genossin. Es spricht vieles dafür. Nur wissen wir noch nicht, wie es geschah. Wenn wir das erst wissen, sehen wir weiter. Und Gnade Gott, wenn es ein Anschlag war. Den Täter bringe ich eigenhändig um!«
Er verließ den Raum. Als er die Tür hinter sich schloß, stand Alexandra immer noch wie erstarrt vor ihrem Bett.
Am Nachmittag, beim Nachlassen des Schneetreibens, wurden die Untersuchungen fortgeführt. Jetzt assistierte Dr. Kresin dem deutschen Arzt, während Worotilow mißmutig auf seinem Stuhl hockte und sich quälte, ein diensteifriges Gesicht zu zeigen. Kommissar Wadislav Kuwakino war sehr zufrieden. Der Hase hatte vorzüglich geschmeckt, der Wodka war alt und stark, Bascha hatte geile Augen gemacht, als er ihr beim Servieren in die volle Brust kniff. Ku-wakino war sehr fröhlich und machte sich ein Vergnügen daraus, mit einem langen Lineal den Gefangenen auf den nackten Hintern zu schlagen und jedes Klatschen mit einem genießerischen Nicken zu begleiten.
Leutnant Markow war nicht mehr gekommen. Er lag auf seinem Bett im Nebenzimmer und wälzte tausend Rachegedanken. Weniger das an seinen Kopf geschleuderte Tintenfaß regte ihn so auf, als vielmehr das Bravo, das aus der langen Reihe der wartenden Plen-nis gekommen war. Er nahm sich vor, nichts Menschliches mehr im Umgang mit den Deutschen zu zeigen, und er weidete sich an
den Bildern, die seine Phantasie vorspiegelte.
Dr. Böhler untersuchte schnell und energisch. Seine Stimme war fest, als er die Zahlen zwölf und dreizehn nannte. Dr. Kresin ließ ihm keine Wahl mehr: er stand neben ihm und untersuchte die Gefangenen >nach<. So kam es auch zu kleinen Meinungsverschiedenheiten, als am Ende der langen Reihe auch die fünf Schreiber sich vorstellten und Dr. Kresin ohne Zögern sagte: »Tauglich!«
»Zwölf!« rief Dr. Böhler.
»Gehen Sie mir mit den Nummern zwölf und dreizehn weg! Die Kerle haben sich gemeldet, sie sind bis auf die typischen Unterernährungserscheinungen gesund, sie haben keine Ruhr, keinen Typhus, keine Tbc, keine Dystrophie . sie haben nur zu wenig Fleisch auf den Knochen! Und das wird man in Moskau heranfüttern.«
Karl Georg sah Julius Kerner und Peter Fischer an. Seine Augen strahlten. »Nach Moskau, habt ihr gehört?« flüsterte er.
»Sieht aus, als wenn wir schnell wegkämen.«
In die Liste für die Neukommunisten kamen auch die fünf Schreiber. Gegen den Willen Dr. Böhlers.
Der Kommissar war sehr zufrieden. Er sah sich die Endzahl an und nickte. 285 Männer! Ein kleines Lager! Eine nette Horde zukünftiger Spitzel und Volkspolizisten für die Sowjetzone. Ein Stammpersonal, das man in Moskau gebrauchen konnte.
Wieder stapften die vermummten Gestalten durch den Schnee. Wieder warteten sie in langen Reihen vor der Kommandantur und schneiten zu. Der Abend war gekommen, die große Kälte setzte ein. Der Himmel wurde klar, der Schnee wie Glas. Nur der klirrende Frost lag über der weißen Erde.
Von den hölzernen Wachttürmen hörte man die Posten fluchen. Die zweite Schicht der Waldarbeiter kam zurück . müde und zitternd standen sie am großen Lagertor und wurden nachgezählt. Die Begleitsoldaten schimpften und sehnten sich nach der warmen Baracke. Von den Wäldern klang leise das ferne Heulen der Wölfe.
In der Kommandantur gingen die >Ausgewählten< am Tisch Wa-dislav Kuwakinos vorbei und unterschrieben die Verpflichtung für die Kommunistische Partei. Der Text war in russischer Sprache gehalten, eine Übersetzung war nicht beigefügt, und so wußte keiner, was er da unterzeichnete und wozu er sich verpflichtete. Allein der Gedanke, schnell in die Heimat zu kommen, trieb sie dazu, ihre Unterschrift auf die Blätter zu setzen.
Kuwakino strahlte. Er drückte Major Worotilow die Hand, nannte das Lager einen Musterbetrieb wie eine staatliche Kolchose und steckte die Papiere in seine dicke Aktenmappe. Selbst Dr. Böhler wurde mit einem freundlichen Kopfnicken bedacht, als er fragte: »Kann ich jetzt in mein Lazarett gehen? Meine Kranken warten auf mich.«
Kommissar Kuwakino sah Worotilow an und blickte dann über die 285 Jammergestalten, die wieder draußen in der Kälte standen und zitterten. Er grinste, seine weit auseinanderstehenden Augen blinzelten.
»Eine kleine Überraschung habe ich für die, die sich gemeldet haben«, sagte er händereibend. Er winkte, und ein russischer Soldat schleppte einen großen Pappkarton herbei, der bis zum Rand mit Briefen gefüllt war.
Mit deutschen Briefen!
Briefen aus der Heimat.
Dr. Böhler starrte auf diesen Karton. Seine Backenknochen mahlten. Post! Nach vier Jahren Post! Nach vier langen, qualvollen, hoffnungslosen Jahren Post!
Endlich Hoffnung. Endlich Liebe! Endlich Erlösung aus der Einsamkeit.
Die Heimat kam nach Rußland!
Julius Kerner begann zu zittern. Auch Peter Fischer und Karl Georg, Karl Eberhard Möller, Hans Sauerbrunn starrten entgeistert auf den Karton. Sie standen dem Soldaten am nächsten und lasen die ersten Adressen, die auf den Kuverts standen.
»Post«, stammelte Kerner. »Von meiner Frau . den Kindern.«
Der Russe stellte den Karton vor Kuwakino auf den Tisch. Der wühlte in den Briefen herum und sah Worotilow an.
»Ich möchte nur die Briefe an die Gefangenen herausgeben, die sich gemeldet haben«, sagte er. Worotilow wurde bleich und verschlossen. »Das wäre eine Härte gegen die anderen, Genosse Kommissar.«
»Sie können sich ja auch melden.«
»Man kann eine Weltanschauung nicht erpressen!«
»Man kann! Ich beweise es.« Kuwakino grinste wieder. Er wandte sich an die fünf Schreiber und wies auf den großen Karton. »Alle 'raussuchen, die in der Liste stehen! Die andern abliefern!«
Julius Kerner stürzte zu den Briefen hin und begann zu wühlen. Er suchte ... suchte bis Peter Fischer ihn in die Rippen stieß und die Listen vor sich auf den Tisch legte.
»Einen nach dem anderen. Du wirst deinen schon finden.« Er leerte den Karton aus. Zu einem großen Haufen türmten sich die meist eng beschriebenen Antwortkarten der Kriegsgefangenen-Post. Monoton begannen Möller und Georg die Namen der Empfänger zu lesen, während Kerner, Fischer und Sauerbrunn sie mit der Liste verglichen.
Waldschmidt.
Eben.
Friedrich Siebach.
Emil Pelz.
»Der Sani, sieh an.« Kerner legte den Brief weg. Zwei Stunden sortierten sie die Karten und Kuverts.
Zwei Stunden standen die 285 Männer in schneidendem Frost, schlugen die Arme um den Körper und warteten.
Die Nacht war klar wie Eis. Wenn man sprach, war es, als würden die Worte zu Glas, das klirrend zersprang.
Eine weitere Stunde dauerte die Verteilung. 249 Gefangene bekamen Post.
249 Glückliche, die mit Tränen die wenigen Worte lasen. Die ersten seit vier Jahren.
Aus Deutschland.
In dieser Nacht wanderte der kleine, ausgemergelte Pastor von Ba-