racke zu Baracke. Er hatte viel zu trösten ... die Weinenden und Verzweifelten ... die Trostlosen und die Stumpfen ... aber auch die Glücklichen, die zurückfanden zu Gott und beten wollten.
Denn Gott war mit der ersten Post gekommen.
Auf seiner Pritsche lag Julius Kerner, neben sich die Trompete, und starrte an die Decke. In der Baracke war es still.
Die Mehrzahl hatte Post bekommen. Nun las man die Zeilen, die Worte, die Silben hundertmal hintereinander.
Julius Kerner hatte einen Brief auf seiner Brust liegen. Sein Gesicht war starr, leblos, steinern. Als ihn Peter Fischer ansprach, drehte er sich zur Seite und schwieg.
»Den hat es umgehauen«, sagte Fischer leise zu Sauerbrunn und Georg. »Der hat Heimweh, daß er schreien könnte.«
Karl Eberhard Möller drehte sich um und rief zu Kerner hinauf: »Was schreibt denn deine Frau? Nun sag schon was.«
Julius Kerner schwieg. Aber nach einiger Zeit stand er auf, nahm seine Trompete und drückte sie Karl Georg in die Hand. Der ergriff sie verwundert und sah ihm nach, wie er aus der Baracke ging., ohne Jacke, ohne Mütze, nur mit Hemd und Hose bekleidet.
»Der wird auf der Latrine frieren«, sagte Möller stockend. »Mein Gott, ich könnte heulen, wenn ich Mutters Karte lese.«
Nach einer halben Stunde war Julius Kerner noch nicht zurück. Karl Georg sah die anderen ängstlich an.
»Da stimmt doch was nicht, Kinder. Da ist doch was los.« Er rief einen der Gefangenen an, die von draußen kamen. »Ist der Kerner auf der Latrine?«
»Nee.«
Peter Fischer sprang auf. Er ging zu Kerners Bett und sah mit Staunen, daß dort der Brief lag. Er nahm ihn auf, zog ihn aus dem Kuvert und begann, die wenigen Zeilen zu lesen.
»Mein Gott, mein Gott.«, sagte er. Blaß setzte er sich an den Tisch und legte den Brief leise auf die Platte. »Er hat keinen Menschen mehr, der Julius. Sein Schwager schreibt es ihm . die Frau und die Kinder liegen unter den Trümmern . Bomben.«
Karl Georg sah auf die Trompete, die ihm Kerner gegeben hatte, und wußte alles.
»Alle 'raus!« schrie er in die Baracke. »Der Kerner! Der Kerl tut sich was an! Alle 'raus!«
Sie rannten so, wie sie waren, aus der Baracke in die eisige Winternacht. Der Frost fiel sie an wie ein hungriger Wolf - sie rannten durch die Lagergassen und schoben die erstaunten Pendelposten einfach zur Seite.
Die Alarmsirene gellte schrill. Auf den Wachttürmen flammten die Scheinwerfer auf und hüllten das Lager in Tageshelle. Den Zaun, die Baracken, das Vorfeld.
Major Worotilow und Leutnant Markow stürzten aus der Kommandantur. Kommissar Kuwakino lehnte am Fenster und kaute an seiner Unterlippe. Dr. Böhler und Dr. Schultheiß standen in ihren Steppjacken und Fellmützen auf der Treppe des Lazaretts und blickten auf das wilde Durcheinander.
»Der Kerner ist verschwunden!« keuchte Emil Pelz, der gerade um die Ecke rannte. »Er hat einen Brief von Zuhause bekommen. Alle durch Bomben getötet.«
Dr. Böhler sah kurz zu Dr. Schultheiß hin. »Armer Kerl. Vier Jahre Rußland. Er hat sie durchgehalten! Und jetzt.« Er blickte zu Boden. »Lassen Sie ein Bett frei machen, Dr. Schultheiß.«
Nach einer halben Stunde fand man Julius Kerner in der äußersten Ecke des Lagers, nahe der Küche. Er hatte sich auch noch Hemd und Hose ausgezogen, nackt lag er im vereisten Schnee. Sein Körper war schon weiß und leblos. Die halbgeöffneten Augen starrten nach oben, und an den Lidern hingen gefrorene Tränen.
Major Worotilow stand vor ihm. Dr. Kresin kniete im Schnee und erhob sich kopfschüttelnd.
»Vorbei«, sagte er. Dann stapfte er wortlos durch die Nacht davon.
»Warum?!« fragte Worotilow den neben ihm stehenden Peter Fischer. Fischer weinte wie ein Kind.
»Er hat Frau und Kind verloren.«, schluchzte er. »Es stand in dem
Brief.«
»Tragt ihn hinein.« Der menschliche Russe Worotilow wandte sich ab. »Und wenn ihr ihn begrabt, gebt ihm seine Trompete mit.«
Leutnant Markow stand starr daneben, als man Julius Kerner aus dem Schnee hob und den steifgefrorenen, nackten Körper in eine Decke hüllte und forttrug.
Ein Deutscher weniger! Aber dann dachte er an seine kleine Frau Jascha und seine Tochter Wanda und daran, daß auch sie sterben könnten. Das machte ihn schwach und hilflos.
Schwankend ging er zu seinem Zimmer zurück.
An der Beerdigung von Julius Kerner hatten Major Worotilow, Leutnant Markow, Dr. Kresin und die Kasalinsskaja teilgenommen. Der kleine, verhärmte Pfarrer sprach mit stockender Stimme: »Herr, Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, der Du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lassest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.«
Drei Wochen nach der Beerdigung erschien Dr. Kresin bei Dr. Böhler und setzte sich stöhnend in einen der Sessel.
»Man hat Sorgen in Moskau, in der Zentralstelle für Kriegsgefangenenwesen. Große Sorgen sogar! Wir haben den Auftrag bekommen, alle Lager mit mustergültigen Lazaretten zu versehen und alles, was benötigt wird, sofort zu melden! Auch sollen neue kulturelle Einrichtungen geschaffen werden - eine Lagerbibliothek, Feierstunden, Theater, ein Lagerkino.« Dr. Kresin schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht, warum man euch gefangenhält, wenn ihr ein besseres Leben habt als die Millionen Bauern in unserem Lande.
Da soll sich einer auskennen! Wissen Sie, was in den Anweisungen steht?« Er hieb mit der Faust auf seine prallen Schenkel. »Es sollen eingeführt werden: Schachgruppen, Sportplätze, Fußballmannschaften, Leichtathletikkämpfe, Kunstausstellungen von Kriegsgefangenen und sowjetischen Künstlern!« Dr. Kresin sah den deutschen Arzt hilflos an. »Begreifen Sie das?! Kunstausstellungen bei den Plen-nis?! Fußball? Schach? Eine Wettkampfbahn! Man hat in Moskau den Überblick verloren!«
»Sport hat uns schon lange gefehlt.« Dr. Böhler schüttelte den Kopf. »Alles, was Sie jetzt sagen, würde sehr dazu beitragen, das Los der Gefangenen zu erleichtern und ihnen neuen seelischen Auftrieb geben! Man ist weise in Moskau - nur der halbwegs zufriedene Mensch leistet wirklich gute Arbeit!«
Dr. Kresin verzog sein Bulldoggengesicht. »Seelischer Auftrieb. Wenn ich mir Sellnow betrachte, weiß ich genug. Wenn der noch einen Auftrieb bekommt, sind wir in einem Karussell!« Er stockte und sah aus dem Fenster auf die vereiste Landschaft. »Übrigens ... können Sie Schach?«
»Ja. Ich spiele es leidenschaftlich.«
»Hm.« Er sah auf seine dicken, großen Hände. »Wir Russen haben da einen Ausdruck: Kulturnaja shisnij! Kultiviertes Leben, würdet ihr dazu sagen ... das will man jetzt bei den Plennis einführen. Wenn ihr mal nach Hause kommt, sollt ihr sagen: Uns ging es besser als den Russen in den deutschen KZ.« Er erhob sich und warf Dr. Böhler eine Liste zu. »Da - füllen Sie aus, was Sie brauchen! Man verlangt ein mustergültiges Lazarett! Es muß bis zum Frühjahr fertig sein! Eine Kommission kommt und prüft, ob es nach den Wünschen der Zentralleitung eingerichtet wurde.«
Dr. Böhler kam sich vor wie in einem Märchen. »Ich darf alles aufschreiben, was ich mir für mein Lazarett wünsche?«
»Sie sollen schreiben, was Sie brauchen für ein Musterlazarett.«
»Und ich bekomme es wirklich?«
»Hoffentlich.«
»Auch ausgebildetes Schwesternpersonal?«
Dr. Kresin grinste. »Das könnte Ihnen so passen«, sagte er mit fettem Lachen.
Dann füllten Dr. Böhler und Dr. Schultheiß die Listen aus. Sie vergaßen nichts - von der kleinsten Klemme bis zum komplizierten Rippenspreizer, von den Sulfonamiden bis zum Penicillin. Vor allem Betten, Betten, Betten. Sanitäre Anlagen. Desinfektionsmittel. Für die Lungenstation eine Pneumothorax-Einrichtung. Isolierstationen für die ansteckenden Krankheiten, wie Ruhr, Typhus, Malaria. Am Abend waren die Pläne so weit fertig, daß sie Dr. Kre-sin und Major Worotilow vorgelegt werden konnten. Dr. Böhler brachte die Listen selbst in die Kommandantur, wo noch immer Kommissar Kuwakino saß und die Namen der Neukommunisten nach bestimmten Gruppen ordnete. Er lächelte den Arzt an und nahm die Listen an sich.