»Moskau ist großzügig, Sie werden alles erhalten! Alles! Nur eins nicht - genügend zu essen!«
Dr. Böhler war es, als habe man ihm ins Gesicht geschlagen. Er starrte Worotilow an. Der Major sah zu Boden.
»Es ist keine Schikane«, sagte er langsam. »Das Jahr 1947 hat unter einer großen Dürre gelitten. Die Hitze hat die Felder versengt, die Ernte blieb zurück. Das Korn, das Gemüse, das Obst, alles verdorrte in der Sonne. Auch Rußland wird dieses Jahr hungern müssen. Ich werde froh sein, die Rationen, die wir jetzt haben, noch halten zu können. Wir werden nächste Woche zu Hirsebrei und Graupen übergehen müssen. Auch der Kohl ist knapp.«
»Und meine Magenkranken? Sie gehen daran zugrunde.«
»Auch in Rußland gibt es Tausende von Magenkranken. Wir können ihnen nicht helfen. Die Natur war stärker als unser Wille.« Wor-otilow legte seine Hand auf die Listen und sah Dr. Böhler groß an. »Sie werden ein Lazarett bekommen, wie es in Stalingrad besser nicht ist! Sie werden Sportplätze bekommen, einen Kinosaal, eine Bibliothek mit den modernsten Büchern aus Rußland und Deutschland. Man wird Zeitungen verteilen . Illustrierte und Romanhefte. Die Gefangenschaft wird eine Erholung sein. Nur - Sie werden
hungern müssen!«
»Und arbeiten! Sie werden verlangen, daß die Plennis mehr und besser schuften, weil sie alle Vorteile der Freiheit hinter Stacheldraht genießen! Man wird die Sollquoten in den Fabriken und Bergwerken höherschrauben und die Männer knechten, wenn sie vor Erschöpfung nicht mehr kriechen können. Was nützt mir ein Lazarett, was kann ein Sportplatz bedeuten, wenn die Männer, die Sport treiben sollen, vor Entkräftung keinen Ball aufheben können? Das ist doch Hohn!«
Kommissar Wadislav Kuwakino, dessen deutsche Sprachkenntnisse sehr mangelhaft waren, sah zu Worotilow. »Was sagt er?«
»Unwesentliches.« Major Worotilow wischte durch die Luft. »Er meint, daß Hunger weh tut.«
Kuwakino lachte meckernd und nickte beifällig. Worotilow blickte schräg zu Dr. Böhler. »Die Arbeitsbrigaden werden ab Frühjahr einen Teil des Lohnes ausbezahlt bekommen. Monatlich 250 Rubel ... 450 Rubel erhält das Lager für Unterkunft und Verpflegung. Was über diesen Gesamtbetrag verdient wird, verfällt ebenfalls dem Lager. Vielleicht erhalten es die Leute ausgezahlt, wenn sie nach Deutschland entlassen werden. Vielleicht. Immerhin - jeder, der arbeitet, kann jetzt 250 Rubel haben und sich damit in der Stadt oder den Werkskantinen zusätzliche Lebensmittel kaufen.« Worotilow sah Dr. Böhler erwartungsvoll an. »Zwei Pfund Brot kosten 3 Rubel! Ein Pfund Margarine 9 Rubel! 250 Rubel sind ein Vermögen!«
»Und was geschieht mit denen, die nicht arbeiten können? Mit den Alten, den Verletzten, den Kranken?«
»Sie werden wie bisher von Graupen und Kohl, von Brot und Hirse leben müssen.« Worotilow zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, daß die deutsche Kameradschaft so weit geht, daß die Verdienenden die Armen mit durchhalten.«
Dr. Böhler nickte. »Darf ich das im Lager bekanntmachen?«
»Ja. Nur nennen Sie keine Daten. Die Bestimmungen sind von Moskau herausgegeben . wann der große neue Apparat zu arbeiten beginnt, weiß ich nicht.« »Es lebe Stalin!« sagte Kuwakino höhnisch.
Wortlos wandte sich Dr. Böhler ab und verließ die Kommandantur.
Die Nachricht flog wie eine Feuersbrunst durch das Lager.
Erregte Diskussionen durchschwirrten die Baracken.
»Nichts ist umsonst!« sage Peter Fischer. »Wenn der Russe uns etwas schenkt, nimmt er auch wieder etwas! Wo gibt's denn das: der Russe wird human!«
»Möglich ist alles.« Karl Georg saß wieder auf seinem Bett, in der Hand hielt er eine Zeitung. Es war die Komsomolskaja Prawda, die große Tageszeitung des Verbandes der Jungkommunisten. Woher er sie hatte, wußte niemand. Er kam immer an die neuesten russischen Blätter und studierte sie fleißig, um seine Sprachkenntnisse zu vervollständigen. Möller nannte Georg eine Intelligenzwanze, aber das regte ihn nicht auf. »Hier steht«, sagte er, »daß die Russen vor einer Währungsreform stehen und danach alles besser würde! Warum nicht auch bei uns?!«
»Weil wir Gefangene sind!«
»Aber Arbeiter für die Sowjets!«
Peter Fischer warf die Zeitung weg, die ihm Karl Georg gereicht hatte. »Wenn das so ist, warum haben wir uns dann überhaupt gemeldet?«
»Um schneller nach Hause zu kommen.«
»Gemerkt habe ich noch nichts. Der Kommissar ist noch immer hier. Über drei Wochen sind 'rum. Es muß sich doch endlich was tun!«
»Scheiße tut sich!« sagte Karl Eberhard Möller und sah Sauerbrunn an, der sein zerschlagenes Nasenbein kratzte. »Glaubst du daran, Hans?«
»Ich lass' mich überraschen.«
Und die Überraschung traf ein.
Drei Tage später rollten einige Autokolonnen über die gefrorene Straße ins Lager. Es waren russische Fahrer, Sträflinge aus den Skljut-schonnyilagern, die vielfach in der Nähe der deutschen Kriegsgefangenenlager errichtet waren und deren Sträflinge - meist kriminelle, aber auch viele politische - in den gleichen Fabriken arbeiteten. Es waren russische Straflager der ersten Stufe, in die man unbequeme Leute einsperrte und sie für den Staat nützlich einsetzte, kleine, an sich harmlose KZ, in denen die Zivilgefangenen nicht schlechter, aber auch nicht besser als die deutschen Plennis lebten.
Die Wagenkolonne, unter Führung eines Jeeps mit einem russischen Leutnant, fuhr vor das Lazarett und stoppte dort. Der Offizier sprang auf den verharschten Schnee, stampfte die Kälte aus seinen erstarrten Beinen und grüßte steif, als Major Worotilow in Begleitung des dick vermummten Dr. Kresin von der Kommandantur herüberkam.
»Die Ausstattungen, Genosse Major!« meldete der Leutnant. »Es ist nicht alles, aber was wir bekommen konnten, ist dabei.«
Dr. Kresin sah Worotilow erstaunt an. »Das neue Lazarett! Moskau hält tatsächlich Wort! Es ist zum Brüllen! Erst sterben Hunderttausende, und jetzt wird um den einzelnen gekämpft! Nur ein Idiot kennt sich in der Politik aus.«
»Wie gut, daß Sie keiner sind, Genosse«, bemerkte Worotilow ironisch. Brummend betrat Dr. Kresin das Lazarett und prallte an der Tür auf Dr. Böhler, der es gerade verlassen wollte. Sie stießen mit den Köpfen aneinander und fuhren erschrocken zurück.
»Ihr neues Lazarett«, schrie Dr. Kresin wütend.
»Deswegen brauchen Sie mir nicht den Schädel einzuschlagen!«
Lachend stand Major Worotilow daneben und rieb sich die klammen Hände. Kisten auf Kisten wurden ausgeladen und in den Schnee gestellt, viele davon mit amerikanischen Aufschriften, aus San Fran-zisko, New York, New Orleans, Milwaukee. Arzneien, zusammenklappbare Bahren, Operationstische, Schränke, Instrumentarien, Betten, die neuesten Metallschienen, ein vollkommenes Röntgengerät, eine Rotlichtlampe, Verbandeimer, eine Sterilisationsanlage.
Dr. Böhler drehte sich zu Dr. Schultheiß um, der aus der Laza-rettbaracke trat. Seine Augen glänzten.
»Verstehen Sie das, mein Junge?« rief er. Seine Stimme zitterte vor Freude. »Es ist, als ob ich wunschlos glücklich träume.«
Dr. Kresin sah sich brummend die Kisten an und verglich sie mit den Transportlisten, die ihm der junge Leutnant gab.
»Verfluchte Schweinerei!« schrie er plötzlich. »Wo ist die Kiste mit den Narkosemitteln?!«
»Welche Kiste?« Der Leutnant wurde rot und trat näher.
»Nummer 134/43 P!« schrie Dr. Kresin.
»Ich habe sie nicht gefressen!« sagte der Leutnant dreist. »Ich habe das aufgeladen, was man mir gab. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Das alte Lied!« schrie Kresin außer sich. »Geklaut! Gibt es einen Russen, der nicht klaut?! Und ausgerechnet die Narkosekiste! Jetzt sitzen die Schweine in Stalingrad und vollführen Rauschgiftorgien! Das werde ich nach Moskau melden, Genosse Leutnant!«