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In Deutschland warteten Luise und zwei Kinder auf ihn. Eine schlanke, blonde, kühle, vornehme Frau, die Tochter eines Justizrates, gewöhnt, ein großes Haus zu führen, zu repräsentieren und zu glänzen durch ihre gläserne Schönheit. Sie hatte ihn, den jungen Assistenzarzt, aus Liebe geheiratet, sie hatte die ersten, schweren Jahre tapfer durchgestanden und den Aufbau der Praxis unterstützt, sie hatte sogar den weißen Kittel angezogen und ihm assistiert, um die Arzthilfe zu sparen. Dann war sie wieder die Tochter des reichen Vaters - sie gab Gesellschaften und trug den Namen ihres Mannes wie eine Standarte vor sich her. Als er sie das letzte Mal besuchte, bevor er nach Stalingrad geflogen wurde, um Dr. Böhler zu unterstützen, hatte sie beim Abschied nicht geweint, sondern ihn stumm umarmt. Erst draußen, bevor er in den Wagen stieg, sagte sie: »Was auch kommt, Werner ... ich warte auf dich!«

Ich warte auf dich.

Sellnow sah auf den wilden, schwarzen Lockenkopf in seinen Armen. Ihre Hände lagen auf seiner Schulter, weiß, schlank, lang. Er fühlte den zärtlichen Druck ihres Körpers durch den Stoff.

Ich werde überall mitgehen, wohin du gehst.

Ich warte auf dich.

Ich werde überall mitgehen.

Die Angst vor dem Morgen schlug über ihm zusammen. Luise und Alexandra. Er ahnte die Einsamkeit, die ihn erwartete.

»Du bist nicht mehr krank?« fragte sie und streichelte sein Gesicht. »Aber blaß bist du, so blaß.«

Er küßte ihre Hände. »Ich liebe dich«, sagte er.

»Soll ich Dr. Kresin sagen, daß er dich wieder ins Hauptlager holt? Du brauchst Ruhe, mein kleiner Schwan.«

Er schüttelte den Kopf. »Mir geht es hier gut. Die Arbeit ist zu ertragen. Auch die Verpflegung geht an. Die Arbeitsbrigaden bekommen eine Sonder-Kascha. In der Kantine kann man manches kaufen.« Er legte seine Stirn gegen die ihre. »Ich habe mich so nach dir gesehnt.«

»Und jetzt bin ich da.«

»Ja. Jetzt bist du endlich da.«

»Vierzehn lange Tage und kurze Nächte.« Ihr Atem war heiß. Er trank ihn. Er dachte nicht mehr daran, was er Dr. Kresin gesagt hatte, daß er froh sei, der Kasalinsskaja entronnen zu sein. Sie lag in seinen Armen, er roch ihr Rosenparfüm. Während er sie küßte, verschloß er mit der linken Hand die Tür.

Vier Tage später erhielt Sellnow Post.

Auch für ihn war es die erste Nachricht nach vier Jahren. Enge, steile Buchstaben bedeckten die vorgezeichneten Zeilen. Unter ihnen erblickte er die kindlichen Kritzeleien seiner beiden Töchter.

»Lieber Pappi«, las er.

Er ließ die Karte sinken und senkte den Kopf. Barhäuptig stand er im Schnee. Die Kasalinsskaja war in die Stadt gefahren, sie wollte Fleisch für einen Festbraten besorgen.

Lieber Pappi.

Er zitterte, er konnte nicht weiterlesen. Es war ihm, als habe er das Recht verloren, diese Karte zu empfangen. Den ganzen Vormittag trug er sie mit sich herum und las sie nicht. Die erste Post nach vier Jahren Schweigen. Er dachte an die ersten beiden Jahre, wo er fast verzweifelte, daß die Heimat schwieg, wo sie an der Kommandantur standen und jeden Tag fragten: »Keine Briefe? Keine Karten? Nichts?« Und der Kommandant - damals war es ein russischer Hauptmann mit vollendeten Manieren - schüttelte traurig den Kopf und meinte, daß die Heimat sie vielleicht vergessen hätte, sie, die in Rußland langsam zugrunde gingen.Vergessen? Luise ihn vergessen? Ich warte auf dich - das waren ihre letzten Worte. Er konnte es nicht glauben, er hoffte auf ein Zeichen ... zwei, drei, vier Jahre lang ... und jetzt war es da ... eine Karte, und auf ihr stand: Mein liebster Werner. Lieber Pappi. Und Alexandra war in Stalingrad, um Fleisch zu kaufen.

In einer Ecke des Hofes, nahe dem Stacheldraht und dem gähnenden Posten las Sellnow die Karte. Und allen geht es gut, und mit aller Liebe hoffen wir, daß es Dir nicht schlechter geht. Marei ist jetzt ein großes Mädchen und hilft mir schon in der Küche. Lis-beth ist in die Schule gekommen und schreibt so schön i und o. Unsere ganze Hoffnung und alle unsere Wünsche gelten nur Deiner Rückkehr. Ich denke immer an Dich, Werner, und weiß erst jetzt, wie sehr ich Dich liebe. Deine Luise. Lieber Pappi! Wir sind alle munter und froh. Jetzt ist Sommer, und ich gehe gleich in den Untersee schwimmen. Ich kann gut schwimmen. Pappi, komm bald

wieder. Es küßt Dich Marei und Lisbeth.

Sellnow lehnte sich gegen die rauhe Mauer. Tränen liefen ihm über die Backen. Luise - Marei - Lisbeth - Als er an Alexandra denken mußte, hatte er einen Augenblick die Versuchung, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen und ein Ende zu machen. Er brauchte sich nur in den Draht fallen zu lassen und zu versuchen, ihn zu erklettern. Dann würde der Posten schießen, und alles, alles war vorüber.

Zögernd stand er vor dem Zaun. Er starrte empor zu dem Mann im langen braunen Mantel mit der Maschinenpistole vor der Brust. Die Stiefel klapperten auf der Mauer.

Doch dann siegte die Vernunft. Er steckte die Karte ein und ging langsam zu seinem Steinbau am Ende des Platzes. Vor dem Eingang blieb er stehen. Er hatte Angst, den Raum zu betreten. Was sollte er Alexandra sagen? Sollte er ihr die Karte zeigen? Sie würde sie zerreißen und ihm das Gesicht zerkratzen, sie würde wahnsinnig werden und ihre Rache nicht an ihm, sondern an den Tausenden Plen-nis auslassen, die ihr wehrlos ausgeliefert waren. Ein reißendes Tier würde sie werden, unbeherrscht, unmenschlich wie in der Liebe zu ihm.

Um sich Mut zu machen, redete er sich zu, ein Opfer für seine Kameraden zu bringen. Solange er sie liebte, würde sie mild zu allen sein - im Gegensatz zur ersten Zeit, wo sie am Tage eine Furie des Grauens war, um in der Nacht eine Furie der Liebe zu werden. Seit ihrer örtlichen Trennung war sie weicher geworden, fraulicher, milder, duldsamer und verinnerlichter. Das zog ihn wieder zu ihr hin, das machte ihn willenlos. Und was mit einem Rausch begann, mit einem Ausbrechen urhafter Instinkte, das wandelte sich in Liebe, die sich mit jedem Kuß, jeder Umarmung erneuerte und wuchs.

In seinem Zimmer saß Sellnow am Fenster und stierte auf die verschneite Fabrik, bis die Kasalinsskaja eintrat. Ihr Gesicht war von der Kälte gerötet, ihre langen schwarzen Haare flossen unter der flachen Mütze hervor auf den Mantelkragen. In einem Netz trug sie viele Pakete. Sie eilte zu Sellnow an das Fenster und küßte ihn -ihre kalten, vollen Lippen ließen ihn zusammenschauern.

»Mein halbes Monatsgehalt ist weg«, sagte sie, indem sie sich aus dem Mantel schälte. Sellnow blickte zu Boden. Ihr biegsamer Körper war immer, in jeder Bewegung, in jeder Lage eine Lockung. »Ich habe Fleisch gekauft, Wurst, gute ukrainische Butter, Sonnenblumenöl, Kuchen und chinesischen Tee. Du sollst wieder ganz gesund werden, mein starker Wolf..«

Ihre Stimme strömte Zärtlichkeit aus. Sie war wie das Rauschen der Wolga. Man konnte die Augen schließen und nur dem Klange lauschen und wäre glücklich gewesen.

Sie packte die Sachen auf den Tisch und wickelte sie aus den Papieren. Er sah, mit welcher Freude sie es tat und wie sie glühte, ihn beglücken zu können. Da erhob er sich und trat neben sie. Er zwang sich, ihren Nacken zu küssen und sie von hinten zu umfassen. Sie lehnte sich in seine Arme und küßte ihn wieder.

»Freust du dich, Liebling?«

»Sehr, Alexandra. Du bist ein Engel.«

»Mit kleinen Fehlern.«, lachte sie glücklich.

Er nickte. »Der größte ist, daß du schön bist, so wild, so ganz Natur. Ich habe das nie gekannt . unser Leben war zu konventionell, zu verzärtelt, zu festgefroren in der gesellschaftlichen Etikette. Unser Leben war alter, ausgelagerter Wein, den man in Dämmerstunden am flammenden Kamin schlürft. Du bist gärender Most, rebellisch, überschäumend, mitreißend, bist in der Sonne gereift. Es reißt mich mit, es macht mich machtlos.«