Выбрать главу

»Bereust du es, mein gieriger Wolf?«

Er sah ihre Lippen dicht vor seinen Augen. Sie waren rot, voll, feucht, leicht geöffnet. Weiß schimmerten die Zähne darunter. Die Augen hielt sie geschlossen. Es durchzitterte ihn, als er es sah. »Nein«, log er tapfer. »Nein. Alexandra.« Er riß sie an sich und vergrub seinen Kopf an ihrer Brust. »Alexandra . ich wünschte mir, nie geboren zu sein.«

In seiner Tasche knitterte die Karte aus Deutschland. Es war wie eine Mahnung.

Lieber Pappi.

Komm bald wieder.

Unsere ganze Hoffnung und alle unsere Wünsche gelten nur Deiner Rückkehr. Ich denke immer an Dich, Werner, und weiß erst jetzt, wie sehr ich Dich liebe. Deine Luise.

Er stöhnte an Alexandras Brust auf und grub seine Finger in ihren Rücken. Sie keuchte und bog sich.

»Nicht jetzt.«, flüsterte sie. »Laß uns erst essen. Ich habe so viel Schönes für dich mitgebracht.«

Er nickte und setzte sich willenlos, fast stumpf, in einen der Sessel, die am Fenster standen. Alexandra hatte sie aus einer Stadtwohnung besorgt und hierherbringen lassen. Die üblichen Holzschemel der Gefangenen warf sie aus dem Fenster in den Hof, wo sie sofort von den Plennis >organisiert< wurden.

Während sie auf einem Petroleumkocher den Braten aufstellte und in einer Waschschüssel das Gemüse putzte, hockte er am Fenster und starrte auf den Posten, der frierend auf der Mauer hin und her pendelte. Es gab kein Entrinnen mehr. Keine Kompromisse, kein Ausweichen, kein einfaches Vergessen des Morgen und Gestern.

Der Duft des Bratens lag schwer und lockend im Raum. Er fühlte, wie der Speichel in seinem Munde zusammenlief. Fressen und Weiber, das ist die Hauptsache. Alles andere ist Tinneff! Aber dann schüttelte er die Schützengraben-Philosophie ab und wandte sich Alexandra zu.

Wie schwer war eine Entscheidung! Und wie grausam für alle! Er dachte an das Sakrament der Ehe, an die Unauflösbarkeit, an die religiöse Pflicht des Verzichtes und die Sünde des Ehebruchs. Aber galten solche Gesetze in der Gesetzlosigkeit der Gefangenschaft? Rechtfertigte ein Leben unter außergewöhnlichen Umständen nicht auch ein Ausbrechen aus der Ordnung moralischer Bindungen?

Sellnow schaute wieder aus dem Fenster auf die verschneite Fabrik >Roter Oktober<. Er wußte, daß all seine Überlegungen hohle Phrasen waren, mit denen er sein Gewissen einschläfern wollte. Eine einzige Postkarte aus Deutschland hatte genügt, ihn nachdenklich und wankend zu machen, ihn innerlich von der Kasalinsskaja zu lösen und zurückzuführen in die bürgerliche Welt seiner Ehe mit Luise. Wie würde es sein, wenn er erst ihr gegenüberstand und das Gestern sich hinter das Heute schob? Wie würde es sein, wenn er wieder im Maßanzug als Hausherr vor einer Gesellschaft stand, die flachen Cocktailschalen herumreichte und Konversation machte? Er konnte sich kaum noch erinnern, wie er in einem Maßanzug ausgesehen hatte. Vier Jahre Krieg, vier Jahre Gefangenschaft - das sind acht Jahre ohne gestärktes Hemd, ohne Bügelfalte, ohne Krawatte, ohne Weste und weiche Schuhe, in denen man wie auf Watte ging. Wir müssen die linke Schulter ein wenig heben, Herr Doktor. Sie haben eine kleine Ungleichheit in den Schultern. Nicht viel. Und sitzt der Rücken so richtig? Etwas salopp, das trägt man heute! Wie bitte, der Kragen schlägt eine winzige Falte? Wird sofort geändert. Und die Ärmel? Glatt. Ist die Rocklänge richtig? Und die Revers lang heruntergezogen. Sie werden zufrieden sein, Herr Doktor.

Er sah an sich nieder und roch den Schweiß in dem Anzug, auf den man mit weißer Farbe groß WP gemalt hatte.

Wojennoplenni.

Kriegsgefangener.

Wie schnell würde man dieses WP in der Heimat vergessen.

Stalingrad ... die Fabrik >Roter Oktobers das Lager 5110/47, die Lazarettbaracke.

Und Alexandra Kasalinsskaja.

Hinter seinem Rücken bruzzelte der Braten. Alexandra trat einmal schnell hinter ihn und küßte ihn, ehe sie wieder zum Petroleumkocher eilte. Sie war glücklich.

Er griff in die Hosentasche und zerriß die Karte aus der Heimat. Es wird alles anders werden, tröstete er sich dabei. Mit der Entlassung wird alles hinter einem liegen, und das Leben wird neu beginnen - dort, wo es vor acht Jahren durch den Krieg unterbrochen wurde. Es ist so weise von Gott eingerichtet, daß sich über den Menschen im Laufe der Jahre das Vergessen senkt.

Er war zu feige, eine Entscheidung herbeizuführen.

Er war vor allem zu feige, sich den Braten entgehen zu lassen, den Alexandra in einer Blechschüssel auftrug.

Im Lager 5110/47 wurde fieberhaft am Ausbau des neuen Lazaretts gearbeitet. Dr. Böhler und Dr. Schultheiß arbeiteten Tag und Nacht, der Sanitäter Emil Pelz bekam vor Überarbeitung einen Herzanfall und war der erste Patient des neuen Barackenflügels, den man angegliedert hatte. Selbst Dr. Kresin half mit und fluchte über sich selbst, daß es ihm nicht möglich war, den äußeren Abstand zwischen Russen und Deutschen aufrechtzuerhalten. Auch Major Worotilow erschien öfter als sonst im Lazarett und sah den Arbeiten zu.

Als die ersten Neuerungen eingebaut waren, zog auch ein neuer Patient ein: Leutnant Piotr Markow. Er ging widerwillig ins Lazarett und beugte sich dem Spruch der verhaßten deutschen Ärzte, aber nun blieb ihm keine andere Wahl, wenn er sein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wollte.

Piotr Markow hatte eine sehr ernste Blutvergiftung. Bis zuletzt hatte er sie geheimgehalten, sich nur in seinem Zimmer vor Schmerzen gekrümmt und im Spiegel verfolgt, wie sich die Entzündung immer weiter ausbreitete. Als ihm Kommissar Kuwakino das Tintenfaß an den Kopf warf, hatte sich Markow taumelnd festzuhalten versucht, war aber dabei so unglücklich gefallen, daß sich sein Tintenstift in die Brust bohrte. Zuerst sah die kleine Wunde harmlos aus und blutete nicht, nach zwei Tagen aber zeigte sich eine Entzündung, die von Tag zu Tag schlimmer wurde, eine Schwellung, ein roter, sich verbreitender Kreis auf der Brust, der sich immer höher zog und bis an den Hals kroch. Dabei stellten sich Schmerzen, Schüttelfrost, Schwindelgefühl und allgemeine Schlappheit ein.

Der Kopf Markows glühte. Er schwieg aus Trotz und Scham. Er ertrug die Pein zwei Wochen lang, bis sie so qualvoll wurde, daß er des Nachts laut stöhnte. Dieses Stöhnen hörte Dr. Kresin, der das Zimmer neben ihm bewohnte, und kam herüber. Er sah die rot geschwollene Brust des Leutnants und alarmierte Worotilow und Kuwakino.

Dr. Kresin tobte und schrie.

»Nichts mehr zu machen!« sagte er entsetzt. »Der Kerl stirbt! Bis jetzt hat er nichts gesagt! Man soll Idioten sterben lassen.«

Piotr Markow sah Dr. Kresin mit einem beschwörenden Blick an. Worotilow knöpfte seine Uniformjacke zu. »Ich hole sofort Dr. Böhler.«

»Nein«, röchelte Markow. Er hob matt die Hand. »Nicht den deutschen Arzt.«

»Dann laß ihn krepieren!« schrie Dr. Kresin brutal.

Markow nickte. Ja, sollte das heißen. Lieber sterben.

Kuwakino sah Worotilow an. Etwas wie Schuldbewußtsein lag in seinen Augen. »Gehen Sie zu Dr. Böhler«, sagte er. »Selbstverständlich!«

Piotr Markow sah Dr. Böhler nicht an, als er ihn kurz untersuchte. Die Brust war bis zum Hals hochrot entzündet.

»Sofort Operation!« sagte Dr. Böhler. Er richtete sich auf und wandte sich an Dr. Kresin. »Sind Sie einverstanden?«

»Schneiden Sie!« schrie Dr. Kresin. »Zerstückeln Sie den Kerl! Er hat's nicht anders verdient!«

Dr. Schultheiß jagte das neue Sanitätspersonal heraus. Er deckte den Körper bis auf das Operationsgebiet ab. Jetzt gab es sogar warme sterile Tücher aus einer elektrischen Trommel, man hatte Spreizer und Klemmen, Catgut, Seide, Narkosemittel, komplette chirurgische Bestecke. Dr. Kresin überflog die Einrichtung, während er sich an dem neuen Waschbecken die Hände schrubbte und sich von einem deutschen Sanitäter die Gummihandschuhe überziehen ließ. Dann trat er an den Operationstisch und sah in das rote Gesicht Leutnant Markows.

»Am besten wir schneiden ihm den Kopf ab«, sagte er laut. »Dann haben wir den Herd der Vergiftung an der Wurzel gepackt.«