Niemand antwortete ihm. Dr. Böhler überflog mit schnellem Blick den kleinen Instrumententisch. Er war vollkommen. Ein schwaches
Lächeln überzog sein Gesicht hinter dem Mundschutz.
Das Lazarett Stalingrad, dachte er. Das Musterlazarett. Es war sein Werk.
»Sind Sie soweit, Dr. Kresin?« fragte er laut.
Der russische Arzt nickte.
Leutnant Markow atmete schnell und heftig. Seine Hände, an den Seiten des Tisches festgeschnallt, wurden weiß. Im Hintergrund hockte Worotilow auf einem Schemel. Er blickte zu Boden. Er wußte, daß es ihm schlecht werden würde, wenn er auf den Operationstisch schaute. Aber er hielt im Zimmer aus.
Dr. Schultheiß nickte. Das Narkosegerät arbeitete.
Bevor Dr. Böhler den ersten Schnitt ausführte, blickte er noch einmal zu Worotilow hin. »Ob ich ihn retten kann, weiß ich nicht. Vor allen Dingen brauche ich Blut! Wir werden viel Blut brauchen.«
Worotilow sprang auf. »Ich werde sofort Spender besorgen!« Wie gejagt rannte er aus dem Zimmer.
Und während Dr. Böhler operierte, warf Worotilow alle Wachmannschaften aus den Betten und sah ihre Papiere durch. Blutgruppe AB.
Mit sieben widerstrebenden Blutspendern, die nicht wußten, was mit ihnen geschehen sollte, erschien er wieder. Er trieb sie in den Operationsraum, gerade in dem Augenblick, in dem Dr. Böhler den Herd der Vergiftung herausschnitt. Die Abdecktücher hatten sich mit Blut vollgesogen, es war bis auf die Gummischürze gespritzt. Die sieben russischen Soldaten starrten auf die Ärzte und wurden weiß. Ein Mongole begann zu schluchzen. Worotilow schlug ihm ins Gesicht, und er schwieg.
»Die Blutspender«, sagte der Major. »Sieben Stück, reicht das?«
Dr. Böhler nickte. »Sofort Transfusion«, sagte er.
Dr. Kresin trat mit blutiger Schürze und tropfenden Handschuhen zu den sieben Soldaten. Er nickte einem dicken, kräftigen Burschen zu. »Du da!« sagte er.
Der Russe zuckte zusammen. Er bekreuzigte sich, aber nach einem Blick auf den Genossen Major ging er tapfer mit zu einem an-deren Tisch, an dem Dr. Schultheiß schon die Bluttransfusion vorbereitete.
Der Russe wurde entkleidet und gewaschen. Zwei deutsche Sanitäter bemühten sich um ihn. Willenlos ließ er alles mit sich geschehen. Ein Blick auf den narkotisierten und aufgeschnittenen Markow hatte ihn schwach gemacht.
Dr. Kresin stieß ihn mit dem Knie auf den Tisch und tastete die Armvene ab. »Wenn es klappt, hast du drei Tage dienstfrei«, sagte er schroff. »Dann kannst du dir in Stalingrad das fehlende Blut wieder ansaufen.«
»Du willst Blut nehmen, Genosse Arzt?« sagte der Russe entsetzt. »Mein Blut.«
»Halt 's Maul! Arm her!« schrie Dr. Kresin. Dr. Schultheiß stieß die Hohlnadel in die Vene, der Russe begann zu jammern, aber er hielt still, weil Worotilow hinter ihm stand, die Hand auf der Pistole. Langsam quoll das Blut durch die Kontrollglasröhre in den Schlauch, der den Arm mit der Vene Markows verband. Während der Blutübertragung schloß Dr. Böhler die Operationswunde. Als er den letzten Stich mit Seide machte, war auch die Übertragung des Blutes beendet. Grinsend lag der Soldat auf seinem Bett und sah zu, wie man ein großes Pflaster über die Einstichstelle an seinem Arm klebte. Dr. Kresin nickte ihm zu, als er sich erhob und zu dem Major hinsah.
»Jetzt hau ab, mein Junge«, sagte dieser gutgelaunt. »Und in drei Tagen bist du wieder da!«
Zufrieden ging der Soldat aus dem Zimmer, vorbei an den wartenden anderen sechs, die ihn jetzt beneideten. Der heulende Mongole strich sich seinen dünnen Schnurrbart und rang die Hände. Drei Tage ohne Dienst. Mutter Gottes von Kasan . das wäre ein paar Liter Blut wert.
Dr. Kresin und Worotilow erboten sich, abwechselnd bei Markow zu wachen. Er wurde in das Zimmer gerollt, wo im Sommer der junge Oberfähnrich gelegen hatte. Der lief heute im Lager herum und hatte eine Art Ordnungsdienst unter sich. Seinen Darmausgang hatte er zwar noch immer, doch Dr. Böhler machte ihm Hoffnungen, den Darm nach einem Jahr - bei den neuen Möglichkeiten, die er jetzt besaß - wieder anzuschließen. Dann würde nur noch eine Narbe davon erzählen, wie nahe er dem Tode gewesen war - und was die Kunst eines Arztes sogar in Stalingrad vermochte.
Gegen fünf Uhr morgens, als Kresin gerade abgelöst hatte, sah Dr. Böhler ins Zimmer. »Alles klar?«
»Ja. Was wollen Sie denn schon? Legen Sie sich hin und schlafen Sie.«
»Ich stehe immer um diese Zeit auf. Im Labor warten meine Reihenblutuntersuchungen.«
»Quatsch! Sie überarbeiten sich, Dr. Böhler.« Kresin erhob sich leise und kam an die Tür. »Sie sollten diese Arbeit einem Assistenten überlassen.«
»Dr. Schultheiß hat mit seiner Lungenstation vollauf zu tun. Ich kann ihn nicht noch mit diesen Laborarbeiten belasten.«
»Dann hole ich Ihnen Sellnow wieder. Sie gehen mir ein, wenn Sie so weiterarbeiten!«
Dr. Böhler lächelte, dann verschwand er wieder in dem dunklen Gang. Er ließ einen sehr nachdenklichen Kresin zurück, der sich sinnend an Markows Bett stellte und scharf zu überlegen begann. Das Ergebnis schien zufriedenstellend zu sein, denn gegen seine sonstige Art fluchte er nicht hinterher, sondern lächelte still vor sich hin. Und wenn Dr. Kresin lächelte, mußte es etwas außergewöhnlich Gutes sein.
Am Morgen fuhr der russische Arzt nach Stalingrad. Nicht zu Dr. von Sellnow und seiner Alexandra, sondern zum General der russischen Division.
General Polowitzkij saß in seiner Kommandantur und trank ein Glas Wodka, als Dr. Kresin eintrat und grüßte. Als er sich umdrehte und den Arzt sah, stellte er schnell die Flasche hinter den Sessel, aber nicht so schnell, daß es Dr. Kresin nicht doch bemerkt hätte.
Der Arzt lächelte breit. »Wieder mal ein Sünder, Genosse General?« fragte er. »Ich habe Ihnen doch Alkohol verboten!«
»Das ist kein Alkohol, das ist Medizin«, knurrte General Polowitzkij. Er leerte das Glas mit einem Zug und stellte es demonstrativ auf den Tisch vor Dr. Kresin hin, der sich dem General gegenüber in einen anderen Sessel setzte. »Was wollen Sie überhaupt hier? Kommen Sie schon wieder wegen Ihres Lazaretts in 5110/47?«
»Ja, Genosse General.«
»Wollen Sie eigentlich aus dem Gefangenenlager einen Kurort machen?«
»So ähnlich. Leutnant Piotr Markow ist schon zur Kur dort. Dr. Böhler hat ihn operiert. Eine verrückte, waghalsige Operation mit Bluttransfusion. Markow hatte eine derartige Blutvergiftung, daß wir ihn alle - auch ich als Arzt - schon aufgegeben haben.«
»Und der Deutsche hat ihn gerettet?«
»Ja.«
General Polowitzkij griff nach hinten und zog die Flasche Wodka hervor. Eine Ordonnanz brachte noch ein Glas. Der General schüttete beide Gläser randvoll. »Ihr Lieblingskind, dieser Dr. Böhler, muß etwas können!«
»Wir haben ihm überhaupt zu verdanken, daß 5110/47 in den Jahren 1944 bis 1947 nicht wegen Menschenmangels aufgelöst werden mußte. Mit den primitivsten Mitteln hat er das Leben von Tausenden gerettet!«
»Das berühmte Taschenmesser«, lachte Polowitzkij.
»Sie scheinen das für einen Witz zu halten!« Kresin war ehrlich beleidigt. »Ich habe es selbst erlebt!«
»Jägerlatein, mein lieber Genosse Knochensäger!«
»Das Taschenmesser ist noch da! Ich habe es aufgehoben für alle Zeiten! Dr. Böhler hat eine Darmoperation mit einem Taschenmesser gemacht und die Wunde mit gerupfter und ausgekochter Seide aus einem gestohlenen Frauenschal genäht!«
»Und was wollen Sie jetzt für Ihren Wunderknaben?« Polowitzkij trank seinen Wodka und schnalzte mit der Zunge. »Wenn Rußland nichts hätte«, sagte er verzückt, »durch seinen Schnaps wäre
es für alle Zeiten berühmt!«
»Und Ihr vorzeitiger Tod ist er auch!« Kresin nahm dem General die Flasche aus der Hand, als er noch einmal eingießen wollte. »Sie haben eine gepfefferte Angina pectoris! Das habe ich Ihnen nicht verheimlicht. Einmal macht das Herz plupp - und aus ist es mit General Polowitzkij! Dann nützt Ihnen kein Lenin-Orden mehr und kein Titel >Held der Nation<! Dann sind Sie zwei Zentner Fleisch und Knochen, die schnell verwesen werden. Und alles wegen des herrlichen Wodkas! Schluß, Genosse!«