»Bis nachher«, sagte er. »Und kochen Sie weiter unser Taschenmesser gut aus.«
Ich nickte. Müdigkeit überfiel mich plötzlich. Ich spürte, wie die Anspannung der vergangenen Stunde sich in meinem Körper in eine grenzenlose Schlaffheit auflöste. Ich schwankte zu meinem Bett und fiel auf den Strohsack. Dann fühlte ich, wie mein Blick starr wurde, ungläubig fassungslos:
Auf dem Tisch lag ein Skalpell. Ein richtiges Skalpell. Es glänzte in der Sonne, die durch das Fenster flutete. Und neben dem Skalpell drei Nadeln, Catgut, eine Schere, ein kleiner Wundspreizer, sechs Wundhaken.
Ich fuhr in die Höhe, riß die Tür auf, rannte rufend durch den Gang. Sellnow stürzte aus der Tür. Böhler kam aus dem kleinen Todeszimmer und sah mich an. »Ein Skalpell!« schrie ich. »Wir haben ein Skalpell! Und Wundhaken und Catgut! Wir haben alles, alles!«
Und dann heulte ich, heulte wie ein kleiner Junge und lehnte mich an die Schulter Sellnows, der mein Gesicht streichelte.
Dr. Böhler war in mein Zimmer gelaufen und kam nun wieder heraus, das Skalpell in der Hand.
»Wir müssen uns bei ihr bedanken«, sagte er leise und sah Sellnow fragend an. »Wollen Sie das übernehmen, Sellnow?« Und ich sah, wie der Oberarzt rot wurde und sich schnell entfernte. Die Ka-salinsskaja, die verhaßte russische Ärztin, das Weib mit den wilden Locken und der schönen Stimme, die in den Haufen der Plennis hineinschrie: »Dawai! Dawai!«
Nun bin ich wieder allein.
Nummer 4583, der junge Oberfähnrich, schläft.
Und alles riecht heute wieder nach Kohlsuppe.
Alles.
Ich werde meine Suppe heute mittag an drei Kranke geben. Ich kann nicht essen.
Wir haben ein Skalpell.
Das Lager 5110/47 liegt außerhalb Stalingrads, nordwestlich der Wolga in einer bewaldeten Niederung. Es ist ein Lager wie alle anderen . hohe Stacheldrahtzäune, niedrige Hütten und Baracken, langgestreckt und eingeteilt in Blocks, am Zaun die halbhohen hölzernen Wachttürme, auf denen die Maschinengewehre stehen, die Scheinwerfer und die russischen Soldaten in ihren erdfarbenen Uniformen.
Ein großes Tor führt auf eine von den Gefangenen ausgebaute Straße. Neben dem Tor liegt das Haus der Wachtruppen, des Kommandanten und des Lager-Distriktarztes. Etwas außerhalb der Wohnblocks erstreckt sich die lange Krankenbaracke mit ihren vielen Fenstern, dem überdachten Eingang und der Zentralküche, die einen besonderen kleinen Ausgang durch den Drahtzaun besitzt, an dem ein schmales Postenhäuschen steht.
Der Boden des Lagers ist festgestampfte Erde. Ab und zu sieht man zwischen den Baracken einen kleinen Garten, liebevoll gepflegt und umrahmt von heimlich in den Taschen mitgebrachten Steinen von den Bauplätzen in Stalingrad. Solch ein kleiner Garten ist der Mittelpunkt der Sommerabende - und damit der Grund eines verbissenen Kampfes von Leutnant Piotr Markow gegen die ausgehungerten Plennis. Siebenmal war in der Nacht von Unbekannten die Gartenanlage zerstört worden, und achtmal wurde sie wieder aufgebaut, wurden weiße Ziersteine gestohlen, durch die schärfsten Kontrollen geschmuggelt, wurden Knollen und Stauden beschafft, ja, beim achtenmal gab es in dem heißen Sommer 1947 sogar herrliche rote und gelbe Tulpen, von denen keiner wußte, wie ihre Zwiebeln durch die Lagerkontrolle zu den Baracken gekommen waren.
Piotr Markow tobte und zertrat die Tulpen. »Das ist Revolution!« schrie er Major Worotilow an. »Rebellion! Ich lasse die Kerle auspeitschen!« Aber Worotilow winkte ab und sagte sinnend: »Warum, Genosse Leutnant? Ich liebe Blumen. Ich komme aus Kasan, der Rosenstadt.«
In Baracke II, Block 7, saßen an diesem Sommerabend Karl Georg, Julius Kerner, Peter Fischer, Hans Sauerbrunn und Karl Eberhard Möller auf einer Pritsche zusammen und spielten mit selbstgezeichneten Karten Skat. Andere standen in Gruppen herum. Beißender Qualm der Machorka-Zigaretten oder des getrockneten Tees, den viele in der geschnitzten Pfeife rauchten, durchzog den langen Raum. Ein ewiges Halbdunkel herrschte hier, ein Zwielicht, umwölkt von Gestank und Stimmen, verbaut durch Betten und Spinde, Kleider und Menschen.
»Wenn du noch mal falsch gibst, tret' ich dir in den Arsch!« sagte Julius Kerner und stieß Peter Fischer in die Seite. »So blöd bin ich noch nicht, um nicht zu sehen, daß du zwei As unten läßt und dir zuschusterst.«
Peter Fischer wollte protestieren und legte die Karten hin. »Kinder!« schrie er. »Ich spiele seit der Muttermilch Skat! Mein Vater war Skatmeister!«
»Und meiner Weihnachtsmann! Gib schon, Idiot!«
Die schmutzigen Karten mit den rührend naiven, gemalten Bildern flogen über den Tisch. Möller, in der Liste Möller 75, was er immer zu hören bekam, wenn ihn jemand anredete, drehte sich aus Zeitungspapier und getrockneten Pfefferminzblättern eine dicke Zigarette.
»Der will uns vergiften«, stellte Sauerbrunn fest. Dabei schielte er auf die dicke Zigarette. »Als ob es hier nicht genug nach den Schweißquanten Kerners stinkt!«
Im Hintergrund polterte es. Die Tür nach außen wurde aufgestoßen, jemand, der ihr am nächsten lag, brüllte »Achtung!«, und ein russischer Offizier betrat die Baracke. Er hatte seine Tellermütze in den Nacken geschoben. Bösartig musterte er die Männer, die sich lässig erhoben und so etwas wie Haltung mimten.
»Der Markow!« flüsterte Sauerbrunn. »Was haben wir denn wieder in den Garten gepflanzt?«
»Vergißmeinnicht«, grinste Karl Georg, der Gärtner der Baracke.
Hinter Piotr Markow schob sich eine schmächtige Gestalt vorbei und baute sich vor dem Tisch auf, der vor den ersten Betten stand. Der Mann trug eine abzeichenlose Uniform, sein fettes, schwarzes Haar glänzte matt. Über seinen dicken Lippen trug er einen buschigen, schwarzen Schnurrbart.
»Was will denn der Aaron hier?« flüsterte Kerner. »Wenn der mitkommt, ist immer dicke Luft.«
Jakob Aaron Utschomi, ein Jude, der als Dolmetscher für die Lagergruppe diente und aus Moskau kam, sah sich um und blickte dann Piotr Markow an, der ihm zunickte.
»Herhören!« brüllte er. »Gestern nacht ist der Küchenhilfe Bascha Tarrasowa ein seidener Schal gestohlen worden!«
»Geschieht dem Trampel recht!« flüsterte Kerner Fischer zu.
Irgendwo im dunklen Hintergrund lachte jemand meckernd.
»Schnauze dahinten!« Utschomi drehte an seinen Fingern und sah zu Markow zurück. »Der Lagerkommandant hat angeordnet: Wenn der Schal nicht bis morgen mittag bei Bascha Tarrasowa ist, erhält das Lager eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger!« »Au Backe!« Kerner sah sich um. »Wegen einem Schal müssen ein paar tausend Mann hungern! Man sollte diesen Markow im Scheißhaus ersäufen wie eine Katze!«
»Wer da redet?!« brüllte Leutnant Markow. »Vortreten!«
Julius Kerner zögerte. Sauerbrunn stieß ihm in die Rippen. »Geh schon! Oder wir bekommen noch mal 100 Gramm abgezogen.«
Als Kerner vortrat, stürzte sich Markow auf ihn. Er faßte ihn am Hemdkragen und zog ihn zu sich heran. »Was du sagen?« schrie er wild. Sein Atem roch nach Wodka und Tabak. Er war betrunken. Kerner sah es an dem starren Blick seiner Augen.
»Ich habe gesagt, daß wir den Dieb suchen, Herr Leutnant.«
Piotr Markow stieß Kerner gegen einen Tisch. Die Kante krachte gegen seine Leiste. Kerner verzog schmerzhaft das Gesicht, aber er schwieg.
»Das gutt!« schrie Markow. »Suchen! Alle suchen! Wer Dieb findet, ein Glas Wodka! Wenn nicht findet, kein Brott!«
Er drehte sich um und verließ den Raum. Jakob Utschomi blieb noch einen Augenblick zurück und blickte in das Halbdunkel der Baracke. Er sah die Gesichter wie Schemen ... aber er sah die Augen, und sie waren voll Haß und Elend.
»Der Schal ist weg, und ihr findet ihn nie! Legt zusammen und gebt Bascha ein paar Rubel für einen neuen Schal! Dann ist ja alles gut. Aber sagt es nicht Markow.«
Dann eilte er wieselgleich dem draußen vor der Baracke III brüllenden Leutnant nach.
»So ein Sauschwein!« schrie Sauerbrunn, als sich die Tür schloß.
»Der Aaron ist selbst einer der Getretenen, der kann nichts dafür. Der muß wie die Oberen pfeifen!« Kerner rieb sich stöhnend die Leiste. »Aber woher sollen wir die Rubel nehmen?«