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»Kennst du sie denn so gut?!«

»Ich habe gesehen, wie sie dir nachschaute! Ich werde sie töten, wenn sie dich nicht in Ruhe läßt!« schrie sie.

»Aber Janina.« Dr. Schultheiß trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schulter. Plötzlich weinte sie und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Sie ergriff seine Hände und hielt sie fest. »Sag mir, daß du mich liebst! Daß du die Tschurilowa gar nicht siehst. Daß sie Luft ist, eine schmutzige Welle des Don. Sag es, Jens.«

Er nickte schwach. »Du mußt dich wieder hinlegen, Janina. Es ist zuviel für dich.«

»Sag es!« forderte sie mit kindlichem Trotz.

»Sie ist alles, was du sagst«, antwortete er gehorsam. »Aber nun leg dich wieder hin. Komm, ich begleite dich.«

Er faßte sie unter den Arm und zog sie vom Stuhl empor. Sie lehnte sich einen Augenblick an ihn, dann schnellte sie plötzlich empor und küßte ihn mit erschreckender Wildheit. Seufzend sank sie zurück und war wieder das kleine, schwache, hilfsbedürftige Mädchen, das sich abführen ließ. Plötzlich erfaßte sie ein Husten - sie wollte ihn verbergen, aber Doktor Schultheiß schüttelte nur den Kopf: »Solche Unvernunft! Du könntest sterben, Janina.«

In ihrem Zimmer knöpfte sie das Kleid auf und zog es über den Kopf. Geduldig und bewegungslos ließ sie sich das lange Nachthemd überstreifen, legte sich gehorsam hin und kuschelte sich in das weiche Kopfkissen. Glücklich sah sie Doktor Schultheiß an. »Bleibst du noch?«

»Ja. Bis du schläfst. Du mußt jetzt schlafen, Janina. Nur Ruhe kann dich wieder gesund machen. Völlige Ruhe.«

»Ich bin nur ruhig, wenn du da bist.«

Er hielt ihre Hand, ihr Atem wurde ruhiger. Bald merkte er, daß sie schlief. Vorsichtig tastete er nach ihrem Puls. Dann schlich er auf den Zehen aus dem Zimmer und schloß aufatmend die Tür hinter sich.

Er sah kurz zu Leutnant Markow hinein, wo Kommissar Kuwakino saß und las.

Auch Markow schlief. Er schlief schon seit der Operation mit kurzen Unterbrechungen. Dr. Kresin sagte, er sei immer schon faul gewesen und nutze seine Krankheit jetzt um so mehr aus.

»Haben Sie den Major gesehen?« fragte Dr. Schultheiß.

»Genosse Worotilow? Njet.« Kuwakino sah kurz von seinem Buch auf. »Vielleicht in Baracke.«

»Danke, Kommissar.«

Kuwakino kniff die Augen zusammen. »Eine Frage, Doktor.«

»Bitte, Kommissar.«

»Wollen Sie nicht werden Chefarzt in russische Klinik?«

Dr. Schultheiß lächelte abweisend. »Bedaure sehr, Kommissar. Ich habe nur einen Wunsch: Freiheit!«

Kuwakino zog unwillig die Stirn in Falten und blickte wieder ins

Buch. Als Dr. Schultheiß die Tür leise hinter sich schloß, murmelte er vor sich hin: »Deutsche Bande! Man sollte keinen, keinen mehr nach Deutschland zurückschicken.«

Draußen stemmte sich der junge Arzt gegen den Wind, der von den Wäldern kam und den Schnee vor sich herpeitschte. Auf den Wachttürmen verkrochen sich die Posten, schemenhaft lagen die Baracken in den hohen Schnee gebettet. Die Rauchfahnen aus den Kaminen flatterten zerrissen um ihre Dächer.

Im Zimmer Worotilows brannte Licht, als Dr. Schultheiß die Kommandantur erreichte. Einen Augenblick zögerte er vor der Tür, dann stieß er sie auf.

Worotilow mußte ihm helfen. Gegen Janina Salja. Ihr Leben hing davon ab.

Dr. Schultheiß wußte, daß er sich noch nie in eine solche persönliche Gefahr begeben hatte wie in diesem Augenblick.

In der Baracke war es seit dem Selbstmord Julius Kerners stiller geworden. Der Motor der frohen Laune, die Heiterkeit Kerners, fehlte. Peter Fischer hatte sein Vermächtnis angenommen und die Trompete behalten. Er lernte fleißig bei einem Musiker auf Block 9 und erschütterte die Baracke mit den Wimmerlauten seiner Übungen.

Hans Sauerbrunn profitierte noch immer von seiner eingeschlagenen Nase. Er hatte ein Arbeitskommando in der Küche bekommen und begann seine Arbeit damit, dem Küchenmädchen Bascha Tarrasowa schöne Augen zu machen. Der russische Küchenchef Michail Pjatjal ertappte ihn sogar einmal, wie er ihr ungeniert unter den Rock griff, und gab ihm dafür eine Ohrfeige. Sauerbrunn nahm sie hin mit dem Optimismus des Wissenden, daß eine Ohrfeige nicht soviel wert sei wie die Portionen Fett, die er von Bascha für diese Beweise seiner Zärtlichkeit erhalten würde. So sorgte er dafür, daß die immer kärglicher werdenden Rationen in seiner Baracke aufgefüllt wurden. Sechshundert Gramm feuchtes Brot, eine Schale Kohlsuppe und zweihundert Gramm Hirse waren verflucht wenig bei der Schwer-arbeit an den Baustellen im Wald und im Lager.

Für das kommende Weihnachtsfest, das man in der großen Freizeitbaracke feiern wollte, probten das Lagerorchester und der Lagerchor mit einigen Solisten, darunter der Kammersänger vom Nebenblock, eine Operette, die ein Plenni komponiert hatte und deren Text von einem neuen, aus Rostow verlegten Gefangenen stammte. Es war ein ziemlich sentimentales Machwerk mit Mondzauber und Bonbonsüße, mit schmelzenden Tönen und sogar einem Ballett, in dem auch Karl Georg mitwirkte, der dafür seit einer Woche am Bettrand Gelenkigkeitsübungen vornahm. Er riß die Beine hoch, beugte den Oberkörper vor, hüpfte auf den Zehen und warf graziös die Arme zur Seite, was bei Hans Sauerbrunn und Karl Eberhard Möller große Heiterkeit erregte und ihm den Namen >Sterbender Schwan< eintrug.

Beträchtliche Erregung durchzog das Lager, als Kommissar Ku-wakino aus Stalingrad Zeitungen mitbrachte. Zeitungen in deutscher Sprache!

Die in einem Lager bei Moskau gedruckten und redigierten Nachrichten für die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion< sowie die >Tägliche Rundschau< und die SED-Kulturzeitschrift >Der Aufbau<. Jede Baracke bekam eine Tageszeitung, jeder Block eine Monatsschrift, und dann saßen die Plennis vor ihren Betten und lasen nach Jahren wieder deutsche Worte.

Karl Georg hatte die >Tägliche Rundschau< vor und las die Außenpolitik.

»In der Heimat hungern sie auch«, sagte er leise. »Sie haben Lebensmittelkarten, wie im Krieg, nur viel weniger!«

»Von wann ist denn der Schmarren?« fragte Sauerbrunn, der im >Aufbau< eine Abhandlung über den Kommunismus Heinrich von Kleists las - und das, was er las, nicht verstand.

»Vom 17. Juni 1947.«

»Und da hungern sie noch?«

»Hier steht: Auf Abschnitt L gibt es in der kommenden Woche dreihundert Gramm Fisch pro Person! Die Eier auf E 12 können erst in vierzehn Tagen ausgegeben werden. An Stelle von Fisch kann es auch Wurstwaren im Wert von eins zu drei geben - das sind pro Kopf einhundert Gramm Wurst!«

»Fast wie bei uns.« Peter Fischer, der seine Trompete putzte und zuhörte, schüttelte den Kopf. »Da stimmt doch was nicht«, sagte er. »Meine Mutter schreibt, es geht ihr gut, und auch zu essen gibt es genug. Wenn sie dürfte, würde sie mir gern jede Woche ein Paket schicken.«

»Wo wohnt denn deine Mutter?«

»In Oldenburg.«

»Und die Zeitung kommt aus Ostberlin und ist gültig für die ganze Mark Brandenburg.«

»Da ist der Russe.«

»Und in Oldenburg?«

»Der Engländer.«

Sie sahen einander an und schwiegen. Endlich räusperte sich Georg. »Irgend etwas ist da faul! Warum bekommen die im Westen mehr zu essen als die im Osten? Man hat uns doch gesagt, daß sie im Westen in den Klauen der amerikanischen Kapitalisten verhungern und die Monopolisten daran sind, ganz Deutschland an den Rand des Abgrunds zu bringen. Darum sollen wir ja Kommunisten werden, um Deutschland vor dem Untergang zu retten, um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einzuführen, Gerechtigkeit und Brot für alle!«

Hans Sauerbrunn legte seinen >Aufbau< auf den Tisch und spuckte auf den Boden. »Ist ja alles Scheiße! Habt ihr mal was von einem Kleist gehört?«

Peter Fischer nickte. »Der hat sich erschossen, war ein deutscher Dichter. Und weil ihn keiner drucken und spielen wollte, machte er bumm!«