Worotilow nickte. »Ich werde mich selbst überzeugen, wie sich die Schwestern einfügen. Sie unterstehen personell der Genossin Dr. Ka-salinsskaja und deren Stellvertreterin Genossin Tschurilowa! Nach mir, natürlich! Sie haben lediglich die Mädchen zur Verfügung Ihres Lazaretts. In allen Dingen, die die Mädchen angehen, haben Sie zu mir zu kommen!«
Dr. Böhler schwieg verbissen. Er sah Worotilow stumm an.
»Haben Sie mich verstanden?!« fragte Worotilow scharf.
»Ja - Herr Major.«
Worotilow kniff bei dem Wort Herr die Augen zu und drehte sich schroff herum. Mit seinen dicken Beinen stampfte er durch den Schnee der Kommandantur zu. Dr. Kresin sah ihm nach und wandte sich dann zu Dr. Böhler.
»Ich habe Angst um Worotilow«, sagte er leise und wirklich besorgt. »Er ist seit gestern anders - stiller, verbissener, zwischen Haß und Freundschaft schwankend. Ich glaube« - er stockte und sah sich um, ob es jemand hörte -, »ich glaube, er ist kein guter Kommunist mehr.«
»Und wenn?« Dr. Böhler hob die Schultern.
»Es wäre das Ende seiner Offizierslaufbahn.« Dr. Kresin hauchte in seine kalten Handflächen, ehe er die Handschuhe anzog. »Wa-dislav Kuwakino würde ihn rücksichtslos nach Moskau melden.«
Nachdenklich wandte sich Dr. Böhler ab und winkte den drei Mädchen. Auf der Treppe zum Lazarett stand die Tschurilowa und sah ihnen entgegen. Ihr Gesicht war blaß und verzerrt. Sie haßte die drei Mädchen schon deswegen, weil sie jetzt da waren und neben Dr. Böhler gingen.
Vom Fenster aus blickte ihnen auch Janina Salja nach. Sie hatte den Bademantel umgeworfen und musterte kritisch die drei in ihren dicken Mänteln.
Eine Tür klappte hinter ihr. Sie drehte sich erschrocken um. Dr. Schultheiß stand im Zimmer und sah sie strafend an.
»Jetzt sind sie da, Jens«, sagte sie leise, fast weinend.
»Wer?«
»Deine deutschen Mädchen! Sie sind schön. Groß, schlank, kräftig - viel, viel schöner als ich! Ich bin eine Leiche, die atmet. Nur noch eine Leiche. Die deutschen Mädchen sind viel hübscher als ich.«
Dr. Schultheiß umfaßte ihre schmalen, zuckenden Schultern und sah neben ihr hinaus auf den verschneiten Platz. Zärtlich drückte er seine Wange gegen ihr Gesicht. »Niemand ist schöner als du, Ja-ninaschka.«
»Ich bin eine atmende Leiche, Jens.«
»Du wirst leben, Janinaschka. Du mußt leben, weil ich dich liebe.«
Sie nickte schwach und suchte seine Lippen. Sie küßten sich lange und innig. Behutsam und zärtlich löste er sich dann aus ihren nackten, warmen Armen und küßte ihre geschlossenen Lider.
»Du mußt brav sein, Janinaschka, und im Bett bleiben«, sagte er stockend. Ihre großen, fieberglänzenden Augen flehten ihn an. Ihre Hände tasteten zitternd über seine Brust. Er biß die Zähne in die Unterlippe und senkte den Blick.
»Du mußt dich hinlegen«, wiederholte er leise.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie mit fast erstorbener Stimme. »Ich sterbe, wenn du mich nicht.« Plötzlich warf sie sich an ihn und krallte sich an ihm fest. Ihr Atem flog. Sie riß mit der rechten Hand das Hemd über seiner Brust auf und versuchte, es abzustreifen. Er hinderte sie daran - fast ringend standen sie im Zimmer, ihr nackter Oberkörper zuckte und warf sich ihm entgegen. »Halte mich!« stöhnte sie. »Halt mich fest, schlag mich - nur tu etwas, erwürg mich, laß mich unter deinen Händen sterben. Ich halte es nicht mehr aus ohne dich.!«
Ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte sie. Sie sank aufs Bett und preßte die Hand vor den Mund. In ihren Augen flackerte die Todesangst. Zwischen ihren Fingern rann ein dünner, roter Streifen hervor.
Dr. Schultheiß rannte in die Ecke des Zimmers und kam mit einer Platte Zellstoff zurück. Er riß ihre Hände vom Gesicht, tupfte das aus dem Mund rinnende Blut ab.
»Still«, sagte er dabei. »Ganz still, Janinaschka.« Er legte sie zurück in die Kissen und deckte sie bis zum Hals zu. Dann setzte er sich auf die Bettkante, nahm ihre schmale Hand - eine Kinderhand, dachte er - und spielte mit ihren Fingern. Sie sah ihn an und lächelte.
»Mein blonder Wolf«, sagte sie zärtlich.
»Ich werde in dieser Nacht bei dir sein.« Er küßte ihre Finger und drückte ihre Hand gegen seine Augen. Ihre Fingerspitzen streichelten seine Brauen und Wimpern.
»Die ganze Nacht?« flüsterte sie glücklich.
»Die ganze Nacht, Janinaschka.«
»Und wenn wir ganz glücklich sind, werden wir das Fenster öffnen und lauschen, wie die Wälder rauschen. Die Wälder der Wolga.« Sie legte sich zurück und schloß die Augen. »Und ich werde dich in meinen Armen halten, ganz, ganz fest und dicht, dein Atem wird über mich gleiten. Kennst du Hafis?«
»Den persischen Dichter?«
»Ja.« Sie zog seinen Kopf zu sich herab und flüsterte ihm ins Ohr. »Er begann ein Lied, das er nie zu Ende schrieb:
Eine Riesenmuschel ist die Welt, die als einzige Perle dich enthält.
Ist es nicht schön, dieses Lied.«
»Sehr schön, Janinaschka.«
Sie schloß die Augen, sein Kopf lag auf ihrer Brust.
»Ich bin so müde, Jens. So müde.«
Er schwieg. Als sie vor Erschöpfung eingeschlafen war, löste er sich leise von ihr und deckte ihre nackten Arme zu. Er sah noch einmal nach dem Ofen, legte ein paar dicke Holzscheite hinein und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer.
Auf dem Gang kam ihm Dr. Böhler, noch immer wütend über Worotilow, entgegen.
»Unsere Schwestern sind gekommen, Schultheiß.«
»Ich habe sie vom Fenster aus gesehen, Herr Stabsarzt.«
»Worotilow hat sie behandelt wie Rotz am Ärmel! Ich möchte wissen, was in den Major gefahren ist! Seit gestern ist er wie ausgewechselt.«
Dr. Schultheiß schwieg, er wurde nicht einmal rot oder verlegen. Worotilow trug es schwer, das wußte er. Er liebte Janina ehrlich. Und es war unglaubhaft, daß er ihn nicht einfach über den Haufen geschossen und nach Moskau gemeldet hatte: In Notwehr getötet.
Dr. Böhler blätterte in den Papieren, die ihm Dr. Kresin gegeben hatte.
»Die ausgebildete Rote-Kreuz-Schwester Ingeborg Waiden hat zwei Jahre auf Lungenstation gearbeitet und selbständig Pneus angelegt. Ich werde sie Ihnen zuteilen, Schultheiß. Dann sind Sie entlastet. Die beiden anderen Mädels werde ich in die chirurgische Abteilung stecken. In der internistischen brauchen wir keine Hilfe - das macht der Pelz allein. Vor allem sind wir dann sicher, daß wir keine Simulanten bekommen. Magenkrämpfe kann man gut nachmachen, und herzkrank sind sie alle - aber jeder wird sich hüten, sich ein Loch in den Leib schneiden zu lassen, nur um in der Nähe eines Mädchens zu sein!«
Dr. Schultheiß nahm die Papiere von Ingeborg Waiden an sich und sah sie kurz durch.
»Aus Kiel?« fragte er.
»Aus Ihrer Heimat, Jens.« Dr. Böhler hob lächelnd den Finger. »Nun machen Sie mir nur keine Dummheiten!«
»Bestimmt nicht, Herr Stabsarzt.«
»Übermorgen kommt die Kasalinsskaja wieder. Ich bin gespannt, was sie zu unseren Neuerwerbungen sagen wird.«
»Bestimmt nichts Gutes.«
»Davon bin auch ich überzeugt.«
Aus dem Zimmer, in dem Leutnant Markow lag, erklang Stöhnen. Dr. Böhler sah auf die geschlossene Tür.
»Wenn ich den durchbekomme, bin ich glücklich«, sagte er leise. »Kuwakino ist wieder bei ihm. Der Kommissar hat so etwas wie sein Herz entdeckt. Haben Sie jetzt noch zu tun?«
»Nein, Herr Stabsarzt.«
»Dann kommen Sie mit zu Markow. Ich will mir seine Blutvergiftung mal ansehen.«
»Übermorgen muß ich wieder fort, Werner«, sagte Alexandra und schmiegte sich zärtlich an Sellnow. »Dann werden wir uns eine gan-ze Woche lang nicht sehen.«
Das ist gut, dachte er. Er kam sich ekelhaft, gemein und feig vor. Er hatte seine Frau betrogen - zum erstenmal mit Bewußtsein und Willen betrogen. Er hatte seine Kinder betrogen, er hatte ihr Vertrauen, ihren Glauben, ihre Liebe geschändet, und er fühlte sich jetzt ausgestoßen und verworfen. Er spürte die Wärme Alexandras an seiner Haut, er roch ihren Körper. Das schwarze Haar kitzelte an seiner Schulter - es roch nach Rosen und Thymian.