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»Du sagst gar nichts«, fragte sie drängend.

»Ich bin traurig, daß du gehen mußt«, log er.

»Wir haben noch zwei Nächte vor uns, in denen ich dich zerfleischen kann.« Sie lachte mit ihrer dunklen Stimme, die ihn immer wieder erschauern ließ. Ihre Raubtierzähne glänzten vor seinen Augen. Die Lippen waren rot und feucht. Mit einem Satz sprang sie auf und dehnte den nackten Körper in der Sonne. Sie tastete mit den Zehen nach ihren gestickten Pantoffeln und trippelte zum Petroleumkocher. Nackt wie sie war, lief sie im Zimmer hin und her und begann, Kaffee zu kochen. Sellnow verfolgte ihre Gestalt mit den Blicken und nahm das Bild dieser wilden, unersättlichen Frau auf, wie man ein Gemälde ansieht, von dem man weiß, daß man es nie wieder sehen wird.

»Ich werde Dr. Böhler und Dr. Kresin bitten, dich wieder ins Lager zu holen«, sagte Alexandra, während sie das sprudelnde Wasser aufgoß.

»Ich werde hier gebraucht«, wich er aus. »Was sollen die Gefangenen denken, wenn ich jetzt weggehe. Ich habe mich an die Fabrik gewöhnt.«

»Aber wir können uns dann nicht sehen, Werner.« Alexandra setzte sich und streifte den Büstenhalter über. Dann zog sie die Strümpfe an. Sellnow sah zur Seite - sein Blut begann wieder zu singen. Er verfluchte sie innerlich, er ballte die Fäuste unter der Decke. Nie, nie wieder ins Lager, dachte er. Ich will Alexandra vergessen, ich will sie hassen lernen!

Die Kasalinsskaja zog sich langsam an. Bevor sie das Kleid überwarf, wusch sie sich in dem Becken neben der Tür.

»Willst du nicht aufstehen, Werner? Soll ich die Männer untersuchen? Ruh dich aus ... ich gehe hinunter.«, sagte sie.

»Nein, danke.« Sellnow sprang auf und schämte sich plötzlich seiner Blöße. Schnell zog er sich ebenfalls an und vermied es, sie dabei anzusehen. Er schaute aus dem Fenster und sah auf dem Hof die Schlange der wartenden Kranken im Schnee stehen. Auf der Mauer im Stacheldraht pendelte wieder der Posten und rauchte. Einer der Sanitäter ging von Mann zu Mann und stellte fest, was sie an Krankheiten melden wollten. Man schien ihn zu fragen, wo der Arzt bliebe, denn er zuckte ein paarmal mit den Schultern und wies nach der Tür des Untersuchungszimmers hin.

Plötzlich erinnerte sich Sellnow einer Unterhaltung mit Dr. Böhler, die damit endete, daß er sagte: »Das Grundübel unserer Menschheit ist das Gewissen! Nur der Gewissenlose gewinnt, nur der Skrupellose siegt! Das Ideal der schönen Seele, des Ehrgefühls um jeden Preis - das alles ist eine blöde, überlebte, überholte Sache! Fahnenehre, Dr. Böhler - das war so ein Mist. Die Fahne ist mehr als der Tod! Ich pfeife auf diese Ehre, wenn ich leben kann! Offiziersehre! Mein Gott, wir tragen sie wie einen Orden auf der Brust und kokettieren mit ihr. Dabei sind wir im Innern genauso elende Schweine wie jeder andere. Akademikerehre! Ach nee - so lange wir Couleur trugen und in Wichs mit den Schlägern präsentierten und Hurra schrien, unseren Salamander rieben und beim Kommers den Stiefel aussoffen, so lange waren wir die Herren der Welt. Aber dann, auf die Menschheit losgelassen, wurden wir genauso idiotisch wie die anderen und denunzierten, ignorierten, boykottierten und schikanierten die Kollegen, nur um eine Praxis zu bekommen oder die Patienten zu behalten. Es ist ein wahrer Spruch: Am futterneidischsten sind die Ärzte! Und dann die nächste Ehre - die Ehre als Mensch an sich! Das ist ja ganz und gar blöde! Was unterscheidet den Menschen denn vom Tier? Die Intelligenz? Gut. Aber sonst? Er säuft, frißt, schläft, begattet sich, gebiert, stirbt, verfault! Aus! Was dazwischenliegt, ist Zivilisation und ein bißchen krampfhafte Kultur, gezüchtet als Mäntelchen für unsere Unzulänglichkeit! Wo bleibt da noch die schöne Seele und die absolute Ehre? Und das Gewissen? Es ist alles Mist! Große Worte, sonst nichts, lieber Stabsarzt.«

Dr. Böhler hat damals geschwiegen und ihn nur groß angesehen. Dann hatte er etwas gesagt, was Sellnow seit diesem Tag innerlich verfolgte: »Sie tun mir sehr leid, Werner - Ihnen fehlt das Schönste und Wichtigste unseres Lebens: die Persönlichkeit!«

Daran erinnerte er sich jetzt, als er vor dem Fenster stand und auf die wartende Schlange seiner Patienten starrte. Hinter sich hörte er die Kasalinsskaja wirtschaften - sie machte das Frühstück fertig. Ein aufbrechender Haß ließ ihn fast zittern; er hatte den Wunsch, diese schöne Frau zu erwürgen und sich an ihrem Tod zu weiden. »Ich bin ein Mensch!« wollte er dabei schreien. »Ich will sühnen! Ich will büßen! Ich bin ein Mensch mit Ehre!« Und während er das dachte, spürte er, wie hohl und pathetisch das alles und wie verloren er in Wahrheit war.

Er malte sich aus, wie befreiend es sein mußte, ihr ins Gesicht zu sagen: >Geh, du Hure! 'raus mit dir! Ich habe zwölf Nächte mit dir verbracht - bezahlen kann ich dich nicht. Aber ich kann dir sagen, daß du ein Schwein bist, ein elendes, mistiges Schwein, und daß ich kotzen müßte, wenn ich dich noch einmal berühren würde...< Und gleichzeitig hatte er Verlangen nach ihren Lippen, ihren Brüsten und Schenkeln und ihrem dumpfen, aufquellenden Schreien und Stammeln, wenn ihr Wille unter seinen Händen zerschmolz.

Er drehte sich um und ging an den kleinen Tisch. Der Kaffee duftete. Frisches Weißbrot lag auf einem Holzteller. In Rußland hungerten sie diesen Winter, aber sie aßen Weißbrot, Butter, fette Milch, Käse, Wurst und sogar zwei Eier.

»Du bist ein Rätsel«, sagte er und strich Alexandra über die schwarzen Haare. »Was würdest du tun, wenn ich dich verließe?«

»Umbringen!« sagte sie sofort. Dabei lächelte sie.

»Mich?«

»Uns beide, Sascha.« Wenn sie besonders zärtlich zu ihm sein wollte, nannte sie ihn Sascha. Er wußte nicht warum, er nahm es hin und freute sich am Klang ihrer tiefen Stimme.

Er belegte eine Scheibe Weißbrot mit roter, sichtlich gefärbter Zervelatwurst und klopfte sein Ei auf.

»Das würdest du tun?« fragte er dabei.

»Ja! Sofort! Ohne Reue!« Sie beugte sich über den Tisch zu ihm. »Du gehörst mir - und keiner anderen mehr! Keiner!«

Sellnow tauchte den Löffel in das Eigelb. Der Tod - ob das eine Lösung war? Er tat so, als suche er nach einem Taschentuch und tastete in der Hosentasche nach der zerrissenen Karte. Lieber Pap-pi, stand darauf. Sein Kopf sank tiefer. Alexandra sah ihn erstaunt an.

»Bist du wieder krank, Sascha, mein Liebling? Kommt das Fieber wieder?« Sie sprang auf und legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie tastete nach seinem Puls; er ließ es geschehen, obgleich er wußte, daß er kein Fieber hatte.

Die Kasalinsskaja hob mit der Hand sein Gesicht zu sich empor. »Du bist so merkwürdig«, sagte sie leise. »Was hast du, Werner?«

»Nichts, Alexandraschka, nichts. Bestimmt nicht.«

Feigling, dachte er dabei, erbärmlicher Feigling! Würgend aß er weiter und schob dann den Stuhl zurück. »Ich muß hinunter. Wartest du hier auf mich?«

»Ich gehe in die Stadt einkaufen.«

»Gut.«

Er küßte sie hastig und rannte wie gejagt die Eisentreppe hinunter. Das Gefühl, mit Alexandra verheiratet zu sein, überwältigte ihn. Es war wie früher, in Deutschland, bei seiner Frau. Er ging in die Praxis, sie fuhr in die Stadt und kaufte ein für das Mittagessen. Sie sorgte für ihn, sie kochte und nähte, an den Abenden saßen sie zusammen, und in der Nacht fanden sie sich. Dort Luise . hier Alexandra. Was war eigentlich anders geworden? Der Ort . das Land . der Körper . der Name . was geblieben war, nannte sich schlicht Frau und Mann. Das blieb immer . überall.

Der Sanitäter legte ihm die Listen der Krankmeldungen vor. Sell-now sah sie gar nicht durch. Er winkte, und die Plennis strömten in das Zimmer. Kurz sah er sie der Reihe nach an und nickte. »Arbeitsunfähig«, sagte er hart. »Alle!«

Er sah nicht die erstaunten und glücklichen Augen der Gefangenen, nicht das Kopfschütteln des Sanitäters. Er war froh, als er nach wenigen Minuten wieder allein war. Einen Augenblick irrte sein Blick zu dem kleinen Wandschrank, wo die Morphiumampullen verwahrt wurden. Es wäre ein schönerer Tod als der, den ihm Alexandra bereiten würde, wenn sie erfuhr, daß er zu Hause Frau und Kinder hatte. Er saß hinter seinem Tisch und starrte auf den Fleck Licht, den die Sonne durch die Ritze der zugezogenen Gardine warf. Seine Hand lag auf den Fetzen der Karte. Wir warten auf dich.