Er hörte, wie Alexandra das Haus verließ, wie der Posten ihr, der Frau im Offiziersrang, seine Meldung entgegenschrie.
In diesen Minuten begann er zu beten - und er befürchtete, daß Gott, den er haßte, schweigen würde. Aber Gott schwieg nicht. Er half ihm, indem er wieder das Fieber schickte.
Es war eine schreckliche Hilfe, aber sie enthob ihn der Entscheidung. Sie gab ihm Zeit... für morgen ... für übermorgen. Und übermorgen fuhr Alexandra zurück ins Lager!
Der Sanitäter, der dazukam, als er sich schwankend erhob, stützte ihn, zog ihn oben im Zimmer aus und half ihm ins Bett.
Als die Kasalinsskaja aus Stalingrad zurückkehrte, fand sie ihn in wilden Fieberphantasien. Sie jagte den Sanitäter aus dem Zimmer und zog die Spritze auf, die sie immer bereithielt. Sie allein wußte, wie das Fieber zu bekämpfen war - sie allein.
Blaß saß sie an seinem Bett und beobachtete ihn. Ein Abend stand in ihrer Erinnerung. Sellnow kam aus der Lungenstation und aß aus seiner Blechschüssel das Abendessen. Es war Kohlsuppe - und der Geschmack des Kohls verdrängte den Geschmack des Pulvers.
Rache, dachte sie damals, Rache, du deutsches Schwein! Du hast mich überwältigt, mich genommen. Jetzt sollst du dafür verrecken!
Alexandra senkte den Kopf auf das Bett, neben die heißen Hände Sellnows. Sie weinte - wild, hemmungslos und laut. Sie schrie in die Kissen.
Auf der Mauer lösten sich die Posten ab. »Nichts Neues, Genosse!« sagte der eine. »Nichts, Genosse!«
DRITTES BUCH
In diesem Winter ereignete sich viel Neues im Lager 5110/47. Nicht nur das Lazarett wurde neu eingerichtet - auch eine Bibliothek kam aus Stalingrad, die Spielgruppe bekam Holz und Pappe für die Kulissen, und Farbe wurde von den Rubeln gekauft, die man in den Fabriken und Gruben verdiente und bei der Kommandantur gewissenhaft und mit bürokratischer Genauigkeit verbuchte. Die größte Neuerung aber war, daß von Moskau ein Schreiben kam, das den Geistlichen erlaubte, in den Lagern Gottesdienste und Bibelstunden abzuhalten.
Dr. Kresin saß bei Dr. Böhler im Zimmer und fächelte sich mit dem Schreiben aus Moskau Luft zu. Sein Gesicht war weingerötet -er hatte heute Geburtstag, und keiner wußte es.
»Es darf gewimmert werden!« sagte er laut. »Großer Gott, wir loben Dich!« Er lachte. »Man hat in Moskau noch Humor - ich habe es bis heute bezweifelt! Es darf gepredigt werden! Bibelstunden! Gottesdienste! >Religion ist Opium für das Volk!< Also geben wir euch Opium, damit ihr weiter dahindämmert und die langen Jahre sich leichter aneinanderreihen, in denen ihr für uns arbeitet! Gar nicht so dumm von den Moskowiten! Wer Heimweh hat - schnell ein Pfäff-lein her und die Händchen gefaltet!«
Dr. Böhler schüttelte den Kopf. »Warum reden Sie so, Dr. Kre-sin? Sie sind ja in Wahrheit gar nicht so. Sie glauben ja selbst an Gott!«
»Ich?!« Kresin lachte schrill. »Mein Gott ist die Flasche! Früher waren es die kleinen Mädchen - aber das ist vorbei!« Er beugte sich vor. »Wer ist eigentlich Ihr Gott, Dr. Böhler?«
»Unser aller Vater!«
»Prost! Und was hat er für Aufgaben?«
»Zu richten und zu verzeihen.«
»Bequemer alter Herr, Ihr Gott, Doktor. Im Augenblick scheint er Migräne zu haben; er hat euch Plennis ganz schön vergessen.«
»Nein. Er hat uns viel, immer geholfen in diesen Jahren. Er hat unser Leben erhalten, er hat uns ein schönes Lazarett gegeben, eine Bibliothek, Schwestern zur Hilfe.« »Stopp!« schrie Dr. Kresin, sein Gesicht war dunkelrot. »Wiederholen Sie! Wer hat Ihnen das gegeben? Gott? Moskau hat es Ihnen gegeben! Ohne Moskau und allein mit euerem Gott wärt ihr alle verhungert und verreckt! Wer hat Ihnen das Lazarett gegeben? Ich! Euer Gott hat nichts dazu getan. Ich habe bei dem General darum gebettelt wie ein Hund!«
Dr. Böhler nickte. »Ja, Sie, Dr. Kresin . weil Sie an Gott glauben!«
»Unsinn! Weil ich Spaß an der Sache habe.«
»Und diesen Spaß - wie Sie es nennen - gab Ihnen Gott!«
Der russische Arzt sah Dr. Böhler starr an, dann atmete er schwer, drehte sich herum, verließ das Zimmer und warf krachend die Tür zu. Lächelnd beugte sich Dr. Böhler wieder über seine Papiere.
Er hatte noch nicht lange gearbeitet, als die Tür aufgerissen wurde und Terufina Tschurilowa hereinstürzte. Atemlos lehnte sie sich an den Türrahmen. In ihren Augen standen Entsetzen und wildes Grauen.
»Kommen Sie!« stieß sie hervor. »Kommen Sie! Block 12! Es ist furchtbar!«
Dr. Böhler war aufgesprungen und sah schnell aus dem Fenster. Still, verschneit, in klirrender Kälte, lag der große Platz. Nichts deutete auf ein außergewöhnliches Ereignis hin.
»Was haben Sie denn?« fragte er beruhigend. Die Tschurilowa schlug die Hände vors Gesicht und wimmerte:
»Sie haben einen umgebracht ... im Block 12!«
»Was?!« Dr. Böhler wurde bleich. »Sie haben.«
»Er ist noch nicht tot. Man fand ihn in der Latrine, fast erstickt im Kot! Dr. Schultheiß ist schon da - er war gerade auf Visite in den Blockrevieren!«
Dr. Böhler riß seine Steppjacke vom Haken und warf sie über. An der bleichen Tschurilowa vorbei stürzte er aus dem Lazarett und traf auf dem Platz schon Major Worotilow und sieben Wachmannschaften, während Dr. Kresin schnaufend aus seiner Baracke kam.
Worotilow sah Dr. Böhler entgegen. Sein Gesicht war verschlos-sen.
»Das ist übel, Doktor!« sagte er hart. »Man hat einen Mann ermorden wollen! In meinem Lager! Ich werde für sieben Tage zunächst die Portionen kürzen.«
Dr. Böhler antwortete nicht. Er lief an dem Major vorbei zu Block 12, wo aus den Baracken die Gefangenen quollen und zur Latrine strömten. Schimpfende russische Soldaten trieben sie mit der Maschinenpistole zurück und riegelten den kleinen Bau ab, in dem die Latrine und eine lange Waschkaue untergebracht waren. Dr. Böhler konnte ungehindert die Postenkette durchlaufen. Hinter sich hörte er das Hackenknallen der Soldaten, als Worotilow ihm folgte, er hörte auch das Brüllen Dr. Kresins, der die Plennis zurücktrieb.
In der Baracke kam ihm Ingeborg entgegen. Sie sah völlig verstört aus. »Dr. Schultheiß macht schon Wiederbelebungsversuche«, sagte sie. »Es ist schrecklich . schrecklich.«
Er stieß die Tür zum Nebenraum auf. Ein penetranter Geruch von Kot und Urin schlug ihm entgegen und nahm ihm einen Augenblick den Atem. Dann sah er inmitten des Zimmers neben einem Tisch Dr. Schultheiß stehen, hemdärmelig, bespritzt mit Kot.
»Wer hat ihn gefunden?« fragte Dr. Böhler.
»Emil Pelz.« Dr. Schultheiß unterbrach seine künstliche Atmung. »Er hätte es nicht bemerkt und keiner hätte es gemeldet, wenn er nicht eine Ente hätte ausleeren müssen. Er fand den Mann auf dem Rücken in der Kotgrube liegen. Man sah, daß jemand versucht hatte, ihn unterzutauchen.«
»Kein Selbstmordversuch?«
»Ausgeschlossen! Es gibt schönere Arten, aus dem Leben zu scheiden.«
Die Tür wurde aufgerissen. Worotilow und Dr. Kresin traten ein. Worotilow zog die Nase hoch, Dr. Kresins Gesicht grinste breit. »Eine ausgesprochen beschissene Sache«, sagte er laut.
Worotilow warf einen Blick auf den Mann und sah zu Dr. Böhler.
»Tot?« Seine Stimme klang belegt.
»Nein«, antwortete Dr. Schultheiß an Böhlers Stelle. »Noch ist er zu retten. Er muß sofort ins Lazarett unter den Sauerstoffapparat. Ich habe Schwester Waiden hinübergeschickt wegen einer Trage.«
»Gut! Retten Sie den Mann auf jeden Fall! Er muß aussagen! Er muß, verstehen Sie?!« Er wandte sich ab, riß die Tür auf und schrie ein paar Kommandos hinaus. Dr. Kresin wurde ernst.
»Er läßt den ganzen Block zusammentreiben«, sagte er zu Dr. Böhler.
»Ja, ich weiß.« Hinter ihnen hörte man das Keuchen Dr. Schultheiß', der wieder mit der künstlichen Atmung einsetzte. »Kennen Sie den Mann, Dr. Kresin?«