»Ja«, sagte der russische Arzt steif. »Er heißt Walter Grosse.«
Dr. Böhler blickte sich um. Emil Pelz war gerade dabei, die bleiche Gestalt mit einer großen Blechschüssel vom Kot zu reinigen. »So eine Sauerei!« sagte er dabei.
»Walter Grosse.«, wiederholte Böhler. »Das wird unangenehm für uns alle werden - für alle im Lager 5110/47?«
Dr. Kresin sah ihn fragend an.
»Der Plenni Walter Grosse war ein Spitzel-Verbindungsmann zum MWD, so nennen Sie das wohl, Dr. Kresin.«
»Dieser Mann da?«
»Ja. Er hat Kommissar Kuwakino die internen Informationen aus dem Lager geliefert.« Dr. Böhler sah wieder auf den Ohnmächtigen, seine Backenknochen mahlten. »Heute möchte ich kein Arzt sein«, sagte er leise.
»Aber Sie sind es immer, Doktor.« Dr. Kresin trat nahe an ihn heran. »Machen Sie jetzt keinen Unsinn, mein Freund! Ich kann verstehen, wie es jetzt bei Ihnen da drinnen« - er tippte Dr. Böhler auf die Brust - »aussieht. Aber Zähne zusammenbeißen! Denken Sie zuerst immer daran: Er ist ein Mensch! Nur ein Mensch. Ohne Namen, ohne Beruf, ohne Persönlichkeit . ein nackter, armer Mensch! Ein Mensch, der jetzt um Hilfe schreit . um die Hilfe eines Arztes! Und das sind Sie!«
Dr. Böhler sah Dr. Kresin starr an. »Das sagen Sie mir, Kresin! Sie, der vor einer halben Stunde Gott leugnete. Ich danke Ihnen. Sie haben mehr innere Größe als ich.«
»Idiot!« knurrte Dr. Kresin. Verschämt wandte er sich ab und brüllte die zwei Träger an, die mit der Bahre hereinkamen. »Schneller! Schneller!« schrie er.
Von draußen hörte man das Trillern der Pfeifen, Schuhe klapperten über den vereisten Schnee, Stimmen wurden laut, Kommandorufe, Flüche, Schreie.
Block 12 wurde zusammengetrieben.
Auch Block 11 und Block 10, die daneben lagen, waren alarmiert worden und traten mit an. 2.439 Männer.
Major Worotilow schlug mit der Reitgerte gegen die hohen, faltigen Juchtenstiefel. Seine Tellermütze saß gerade und korrekt auf dem Kopf. Das wirkte wie eine Warnung - die Unnahbarkeit des Stärkeren.
Die 2.439 Männer schwiegen. Wie ein Lauffeuer war es durch das Lager gegangen, wen man in die Latrine gestoßen hatte. Walter Grosse, ehemaliger Politischer Leiter in Stuttgart, Kreis-Organisationsleiter der NSDAP - seit drei Jahren als deutscher V-Mann beim MWD und Spion bei den eigenen gefangenen Kameraden.
Die 2.439 Männer sahen verbissen auf Worotilow. In ihren Augen stand der Trotz, die innere Auflehnung, die Revolte. Worotilow sah es, er wurde steif und spürte Brutalität in sich aufsteigen. Das erschreckte ihn, aber er wehrte sich nicht dagegen. Es ist meine Natur, dachte er. Ich bin ein Russe! Ich bin der Sieger! Seine Reitgerte fuhr zischend durch die eisige Luft.
»Ruhe!« brüllte er.
Der Dolmetscher Jakob Aaron Utschomi schlich heran. Der kleine Jude war bleich und zitterte. Er allein schien zu wissen, was gleich mit den Blocks 10, 11 und 12 geschehen würde. Er stellte sich neben den Major. Wenn Worotilow mit den Gefangenen sprach, konnte er kein Deutsch mehr.
In der Latrinenbaracke bettete man Walter Grosse auf die Bahre. Dr. Schultheiß stand, beschmiert wie er war, daneben und fühlte den Puls des fast Leblosen.
»Nicht mehr tastbar«, sagte er zu Dr. Böhler.
Die Bahre wurde hinausgetragen. Der Gestank des Kots flog voraus. Vorbei an der Mauer der angetretenen 2.439 Männer rannten die Träger zum Lazarett. Dr. Böhler folgte ihnen, während Kresin sich hinter Worotilow stellte.
»Abzählen«, sagte Worotilow zu Utschomi. »Zu zwanzig! Jeder zwanzigste soll vortreten.« Der kleine Dolmetscher schrie es mit seiner hellen Stimme über den Platz. Schweiß stand unter seiner hohen Pelzmütze. Jeder zwanzigste - er zitterte.
Die Zahlen flogen durch die klirrende Luft. Schritte knirschten. Die abgezählten Plennis traten vor. Stumm, starr, verbissen.
Major Worotilow sah sie an, er winkte den russischen Posten -sie bildeten einen Kreis um die Abgezählten. Die Läufe ihrer kurzen, klobigen Maschinenpistolen zeigten auf sie.
»Diese Männer werden erschossen, wenn Walter Grosse stirbt und sich die Attentäter nicht melden!« Worotilow sah auf die Mauer der Gefangenen. »Bis dahin gibt es für alle drei Blocks nur halbe Rationen! Die Arbeitskommandos bleiben eine und eine halbe Schicht draußen! Ohne Bezahlung!« Er fuhr wieder mit der Peitsche durch die Luft. »Wegtreten!«
Utschomi wiederholte es ... die Mauer stand.
»Wegtreten!« schrie Worotilow.
Die 2.439 standen. Keiner rührte sich. Dr. Kresin biß sich auf die Unterlippe - Verdammt, wenn das Moskau erfährt! Verdammt! Er dachte an Kommissar Kuwakino, der wieder am Bett Leutnant Markows hockte. Gut, daß er das hier nicht sah.
Major Worotilow starrte die Mauer der stummen Männer entlang. Er sah tausend Augen auf sich gerichtet, Augen voll Haß und Hunger, voll Schrecken und Trotz.
»Wegtreten!« brüllte er heiser auf deutsch. Die Plennis, die Verdammten, standen.
Da wandte er sich ab, winkte den Posten und stapfte allein davon. Er stieß den gefrorenen Schnee vor sich her, er stampfte sei-nen Zorn in den Boden. Hinter sich hörte er, wie die abgezählten Zwanzigsten von den Posten in die Mitte genommen und abgeführt wurden. Sie kamen in eine Baracke neben der Kommandantur. Zehn Posten bewachten sie von jetzt ab Tag und Nacht.
Die anderen Männer standen noch immer. Standen im Schnee, in klirrender Kälte. Sie standen wie Pflöcke, die man in die Erde gerammt hat, starr, unerbittlich und unbeweglich.
Jakob Aaron Utschomi stand vor ihnen und beschwor sie, in die Baracken zurückzugehen. Er rang die Hände, er bettelte fast. Die Männer standen. Nur aus einer der hinteren Reihen kam kurz eine laute Stimme.
»Hau ab, du mistige Wanze!«
Bleich ging auch Utschomi. Er drehte sich noch ein paarmal um und starrte auf die dunkle Mauer von Menschen. Fast weinend ging er in sein Zimmer und setzte sich ans Fenster. Auch er dachte an Kommissar Kuwakino.
In der Kommandantur hieb Major Worotilow immer und immer wieder mit der Reitgerte auf den Tisch. »Ich lasse sie alle erschießen!« schrie er Dr. Kresin an. Er glühte vor Wut und berauschte sich an blutigen Bildern. »Alle, alle werde ich erschießen lassen. Alle 2.439 Mann! Mit vier Maschinengewehren, an der Mauer! Ich lasse mir das nicht bieten! Sie sind Gefangene ... da gibt es keine Auflehnung! Ich werde sie zerbrechen, wie man Holz über den Knien zerbricht!«
Dr. Kresin zündete sich eine Zigarette an. Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Denken Sie an Moskau, Genosse Major. Man wird Rechenschaft von Ihnen fordern.«
»Ich lasse mir das nicht bieten!« schrie Worotilow außer sich vor Wut.
»Sperren Sie ihnen alle Vergünstigungen . streichen Sie die Operettenaufführung zu Weihnachten, ziehen Sie die Instrumente der Lagerkapelle ein, halbe Portion Essen, lassen Sie die Bibliothek schließen, sammeln Sie alle deutschen Zeitungen und Zeitschriften ein, machen Sie aus dem Lager ein dumpfes Gefängnis, sperren Sie das Licht ab neun Uhr abends, aber lassen Sie die Männer selbst in Ruhe. Nichts bedrückt sie mehr als die Streichung aller Vergünstigungen.«
Major Worotilow sah an die Decke, von der eine billige Lampe über den Tisch hing, eine Lampe mit einem häßlichen dunkelgrünen Stoffschirm.
»Das sind gute Ideen, Dr. Kresin! Ich werde das Lager in eine bewohnte Einöde verwandeln, bis sich die Mörder melden!«
»Und was wollen Sie mit den Mördern machen?«
»Ich werde sie dem Genossen Kommissar übergeben.«
Dr. Kresin wiegte den mächtigen Kopf hin und her. Seine Augen waren halb geschlossen. »Das wäre grundfalsch, Genosse Major. Wir alle achten Sie, nur einen Feind haben Sie: Kuwakino. Nicht einen persönlichen - dazu hätte er keinen Grund, aber einen ideologischen. Das ist viel schlimmer. Kuwakino ist ein Fanatiker. Er sucht Opfer, über die er nach oben ins obere Politbüro der Partei kommt. Er will einen Knüppeldamm aus Knochen bauen, denn der Weg nach Moskau ist schlammig und schlüpfrig und sehr glatt. Er würde sich nicht scheuen, auch Sie auf seinen Weg zu legen. Der Kommandant von Lager 5110/47, der es nicht fertigbringt, seine Gefangenen in Ordnung zu halten. Der sowjetrussische Major mit einem Herz für das Deutsche, der Offizier, der nicht vergessen kann, daß er deutsche Ausbilder hatte und der abends Clausewitz liest und die Erinnerungen von Moltke und Hindenburg!«