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»Ein Schal kostet bestimmt 300 Rubel!«

Fischer winkte ab. »3, 30 oder 30.000 - für uns ist jeder Rubel ein Vermögen!«

Karl Georg nahm die Karten vom Tisch und legte sie zusammen. »Eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger! Und dann im Walde arbeiten oder auf dem Bau oder in der Grube? Das halte ich nicht aus.«

Seine Stimme schwankte. Er sah sich um und blickte in starre, verfallene Gesichter. »Welches Schwein mag wohl den verdammten Schal geklaut haben?!«

Er sprach aus, was in diesem Augenblick Tausende Gefangene dachten.

In der Lazarettbaracke saß Dr. Böhler hinter seinem Tisch und las die Krankenblätter durch, die er gewissenhaft von jedem Patienten angelegt hatte. Das Papier hatte er von Dr. Sergeij Basow Kresin, dem Distriktsarzt, bekommen, der Dr. Böhler einen dreckigen Beamten nannte, es aber doch herausgab.

Dr. Sellnow und Unterarzt Dr. Jens Schultheiß standen am Fenster und blickten hinaus in die Abendsonne, die dort unterging, wo Tausende von Kilometern entfernt ihre Heimat lag.

»Jetzt ist in Berlin sonniger Nachmittag«, meinte Sellnow düster. »Und bei Ihnen in Köln, Dr. Böhler, gehen sie jetzt im Stadtwald bummeln. Schöne Frauen flirten mit netten Männern in teuren englischen Maßanzügen und können es nicht erwarten, bis der Abend kommt. Und wir hier? Es ist zum Kotzen!«

»Sind das Ihre ganzen Sorgen, Werner?« Dr. Böhler sah von den Papieren auf. »Dann sind Sie glücklich.«

»Seit drei Jahren habe ich keine Frau mehr gesehen! Wenn das nicht verrückt macht!«

»Ich habe Ihnen da nichts voraus, Werner.«

»Sie!« Sellnow winkte ab. »Sie wirken auf mich wie ein Heiliger. Wie der selige Franziskus, der sich in einen Ameisenhaufen setzte, um seine fleischliche Lust abzutöten! Ihr Ameisenhaufen ist das Lazarett, sind die Operationen, sind Ihre schreienden Patienten. Sie haben das Zeug zu einem Einsiedler in sich . ich aber bin ein verdammt normaler Mensch, so verflucht normal, daß ich an mich halten muß, um dieses Biest von Kasalinsskaja nicht wie ein Tiger

anzufallen.«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf und schob die Krankenpapiere zur Seite. »Sie sollten sich zusammennehmen, Werner! Ich verstehe nicht, daß Ihnen die Kohlsuppe die fleischlichen Lüste nicht besser austreibt als ein Ameisenhaufen. Unter den Hunderttausenden in den Lagern dürften Sie jedenfalls ein recht einzigartiger Fall sein.«

Sellnow setzte sich ans Fenster auf einen der Stühle, die Emil Pelz und ein anderer Sanitäter aus Baubrettern gezimmert hatten. Die Farbe hatten sie aus der Küche gestohlen, als man den Kochraum weißte.

»Ich bin jetzt 49 Jahre alt«, sagte er langsam. »Mit 32 habe ich geheiratet, als junger Oberarzt in Kiel. Als ich 35 war, wurde der Junge geboren, zwei Jahre später das Mädel. Mit 40 hatte ich eine Praxis in Frankfurt an der Oder. 1939 ging es 'raus nach Polen, dann Frankreich, dann Norwegen, dann Abstecher nach Griechenland und Italien, zuletzt dieses verfluchte Rußland. Und immer als Truppenarzt. Hauptverbandplatz, vorgeschobener Verbandplatz, Feldlazarett. Neun Jahre, neun verlorene Jahre, die mir keiner wiedergibt! Der Staat nicht, das kommende Leben nicht, und Ihr Gott erst recht nicht! Und wenn ich wieder aus diesem verdammten Stalingrad herauskomme, bin ich ein alter Mann, weißhaarig, klapprig, zu nichts mehr zu gebrauchen.« Er bedeckte die Augen mit den Händen und stöhnte. »Wenn ich daran denke«, sagte er leise, »möchte ich Schluß machen wie der arme Kerl mit dem Tetanus nebenan.«

Dr. Böhler erhob sich und trat neben Sellnow ans offene Fenster.

»Wir müssen uns nicht unterkriegen lassen wie die Tausende, die verzweifeln, wenn die russischen Nächte kommen. Wir sind Ärzte, Werner . nicht nur mit dem Skalpell oder dem Stethoskop. Wir müssen Ruhe ausströmen, Vertrauen, Stärke. Wir müssen etwas vorleben, woran wir selbst nicht glauben. Aber wir müssen so tun, als glaubten wir und wären in diesem Glauben stark für die Zukunft! Wir müssen ein Beispiel sein, Werner, ein Abbild dessen, was jeder gerne sein möchte. Auch -«, er stockte und sah die beiden Ärzte an, »auch, wenn wir selbst dabei zerbrechen! Und dieser Zusam-menbruch wiederum muß still sein, in irgendeiner Ecke, verborgen, wie es die Tiere tun, wenn sie sterben. Wir Ärzte, Werner, sind für die Tausende um uns das Licht, dem sie nachgehen und das ihnen den Weg zeigt.«

»Sie hätten Pfarrer werden sollen«, antwortete Sellnow bissig. »Unser Unterarzt sagte überhaupt nichts.«

Jens Schultheiß zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen?« Er schob die Lippen etwas vor und lächelte wehmütig. »Man hat Sie um Ihr Leben betrogen, Herr Oberarzt, um Ihre Frau, Ihre Kinder. Was hat man mir genommen? An realen Werten - nichts! Ich saß auf der Universität in Erlangen und hörte Anatomie und Pathologie. Dann war Krieg, und ich kam nicht mehr zum Nachdenken. Nur eins bewegte mich in all den Jahren: Wenn du bloß da wieder herauskommst! Man hat mir nichts genommen als meine Jugend. Aber dafür liegt das Leben noch vor mir.«

»Auf das, was vor uns liegt, pfeife ich!« Sellnow schnellte vom Stuhl empor und rannte in dem kleinen, sonnigen Zimmer hin und her. »Oder glauben Sie, man läßt uns wieder zurück nach Deutschland? Als lebende Propaganda gegen den Kommunismus? Das wäre einmal ein Märchen, das wahr wird!«

Dr. Böhler stützte sich auf den Tisch und nahm ein Blatt aus der Mappe. »Nummer 9523 E«, sagte er. »Unfall im Stollen. Eine Strebe brach und begrub den Mann. Rippenquetschung und unbekannte innere Verletzungen. Wurde in der Nacht eingeliefert. Erste Betreuung hat Dr. Kresin übernommen.«

»Dieses Rindvieh!« meinte Sellnow grob.

»Dr. Kasalinsskaja hat den Fall übernommen und Tetanusantitoxin gegeben.«

»Bei 'ner Rippenquetschung!« warf Sellnow entsetzt dazwischen.

»Der Mann hatte auch Schürfungen . aber lassen wir das. Für uns ist es nur wichtig, daß sich die russischen Ärzte um unsere Arbeit kümmern, daß sie nicht mehr abseits stehen und nur gesund schreiben, sondern Interesse an unserem Gefangenenlazarett zeigen.« Er blickte Sellnow fragend an. »Was hat unsere liebe Ärztin eigentlich

gesagt, als Sie sich bei ihr für das Skalpell bedankten?«

»Sie hat mich hinausgeworfen!« sagte Sellnow und wurde rot.

»Hm. Und sonst nichts?«

»Mir genügt's!«

Ohne anzuklopfen trat in diesem Augenblick ein großer Mann, ein Bulle in erdbrauner Uniform, ins Zimmer. Er grüßte nicht, er blieb im Türrahmen stehen und sah von einem zum anderen.

»Da sind Sie!« sagte er laut.

Dr. Böhler klappte die Mappe zu und senkte grüßend den schmalen Kopf. »Ja, Dr. Kresin?« sagte er fragend.

»Sie habben operiert heute, mit Taschenmesser?«

»Ja.«

»Das ist verbotten!«

»Es war der einzige Weg, das Leben zu retten! Wir haben keine anderen Instrumente. Wir haben - das wissen Sie ja - nichts!«

»Und womit habben Sie genäht?«

»Mit Seide.«

»Woher?«

Sellnow spürte eine Falle. Ehe Dr. Böhler antworten konnte, kam er ihm zuvor und schob sich zwischen den Chefarzt und den Russen.

»Wissen Sie das denn nicht, Dr. Kresin?« fragte er dreist. »In Baracke IV, Block 1, züchten wir doch Seidenraupen!«

Dr. Sergeij Basow Kresin sah Dr. von Sellnow groß an. In seinen Augen stand Unbegreifen und Zorn. Er wischte mit der Hand durch die Luft, und seine große, tellerförmige Handfläche wirkte wie ein Fächer. Deutlich war der Luftzug zu spüren.

»Seide ist gestollen! Von Bascha aus Küche! Sie nähen mit einem Schal! Das ist unerhört!«

»Dann geben Sie uns Nähmaterial«, sagte Dr. Schultheiß laut.

»Nichts, nichts gebbe ich! Ihr sollt verrecken, alle, alle.«

Dr. Böhler sah in das zornige Gesicht seines Kollegen und lächelte plötzlich. Er griff zu seiner Mappe, nahm ein Papier hervor und nickte zu Dr. Kresin hin.

»Der Mann aus dem Stollen, den Sie mir einlieferten, hat eine Milzquetschung. Wir müssen exstirpieren!«