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Dr. Sergeij Kresin riß die Augen weit auf: »Ach!« sagte er. »Sie wollen Milz wegnehmen? Hier?«

»Ja.«

»Mit Taschenmesser?«

»Wenn es sein muß - ja.«

»Sie sind verrückt.«

Dr. Böhler schüttelte den Kopf. Auf seiner hohen Stirn perlte der Schweiß. »Nein, Dr. Kresin«, antwortete er leise. »Ich bin nur verzweifelt.«

Dr. Kresin trat gegen die Tür, mit einem Krach sprang sie auf. »Mitkommen«, schrie er rauh. »Sofort!« Dann ging er voraus, während Sellnow sich an Dr. Böhlers Arm hing.

»Was soll das?« flüsterte er erregt.

Dr. Böhler lächelte leicht, indem er sagte: »Ich habe das Gefühl, als bekämen wir jetzt einen ganz brauchbaren Operationsraum.«

Sie gingen zusammen über den Platz. Die Abendsonne lag wie Gold über den Baracken und Drähten, den Wachttürmen und den fernen Wäldern. Aus einer Baracke ertönte Gesang ... er wurde begleitet auf einer selbstgebastelten Mandoline. In seinem Garten stand der Plenni Karl Georg und harkte die Beete mit einer hölzernen, geschnitzten Harke. Als er die Ärzte kommen sah, nahm er Haltung an und legte den Harkenstiel wie einen Gewehrlauf an die linke Seite. Dr. Böhler lächelte und winkte ihm zu.

»Was macht ihr Furunkel?« rief er über den Platz.

»Alles in Ordnung, Herr Stabsarzt. Muß schon wieder arbeiten, sagt die Ärztin.«

Er sah ihnen nach, wie sie um die Ecke verschwanden und zum großen Lagertor gingen. »Wenn wir den nicht hätten«, murmelte er vor sich hin und begann, den Boden um seine Tulpen zu lockern.

Julius Kerner kam aus der Baracke und winkte ihn zu sich heran. Er tat sehr geheimnisvoll und strahlte über das ganze Gesicht.

»Wir haben vier Rubel, Karl«, sagte er stolz.

»Vier Rubel?« Karl Georg sah seinen Freund verblüfft an. Der Besitz von vier Rubeln war wie ein Märchen. »Woher denn?«

»Müller hatte noch einen silbernen Uhranhänger, so'n dusseliges Ding, das er beim Kegeln gewonnen hat. >Gut Holz< stand drauf, und neun Kegel! Das hat er dem russischen Posten 6 für vier Rubel verkauft! Der Kerl war ganz wild darauf!«

»Und was kostet ein Schal?«

»Der Posten meint, ein guter Seidenschal kommt auf 300 Rubel!«

»Das schaffen wir nie. Ich müßte mal mit der Bascha reden. Vielleicht will sie gar keinen mehr.«

»Die nicht . aber der Markow, das Schwein!«

Ein Posten, der vorüberging, blieb vor dem Garten stehen und sah sich die blühenden Tulpen an. Er lachte den beiden Deutschen zu, und seine dunklen Augen in dem gelben Tatarengesicht strahlten.

»Gutte Blume«, sagte er mit der hellen Stimme vieler Asiaten. »Schön für Mädchen.«

»Du kannst mich kreuzweise!« sagte Karl Georg. Dann ließ er Julius Kerner und den Tataren stehen und harkte seine Beete weiter.

In der Kommandantenbaracke wartete Major Worotilow. Er saß an seinem großen Schreibtisch, während Leutnant Markow aus dem Fenster lehnte und den großen Appellplatz übersah. Er bemerkte die Gartenarbeit Karl Georgs und ärgerte sich maßlos über seinen Kommandanten, der das duldete.

Dr. Böhler grüßte und sah Major Worotilow erwartungsvoll an.

»Sie haben operiert?« fragte Worotilow in dem gleichen Ton wie vorher Dr. Kresin.

»Es blieb mir keine Wahl!«

»Sie wissen genau, daß Sie keine Befugnis haben, Eingriffe zu unternehmen. Wir haben Ihre Krankenstelle nur für Lungenkranke und Verletzte eingerichtet, die Pflege brauchen. Operieren steht allein Dr. Kresin oder Dr. Kasalinsskaja zu! Und Sie haben sogar mit einem Taschenmesser operiert!« Major Worotilow kniff die buschigen Augenbrauen zusammen und sah die deutschen Ärzte eine Weile stumm an. »Wenn der Patient stirbt, werde ich Sie wegen Mord an einem Kameraden nach Moskau vor das Kriegsgericht schicken!« Er machte eine umfassende Handbewegung. »Sie alle!«

»Es gab keine andere Rettung als den Eingriff!« Dr. Böhler blieb ruhig, während Dr. Sellnow unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Dr. Schultheiß lehnte blaß an der Wand. Mord, dachte er. Wenn der Oberfähnrich stirbt, geht es um unseren Kopf.. Als ob es den Russen auf diesen einen Gefangenen ankäme! Alles, alles ist nur Schikane, ist Nervenkrieg . man will uns weich machen, weil wir den Kopf noch oben tragen, weil wir noch ein Rückgrat haben und nicht Wachs sind in ihrer Hand.

Major Worotilow sprang auf. »Man hat dem Küchenmädchen einen seidenen Schal gestohlen! Das ganze Lager bekommt eine Woche 100 Gramm Brot weniger am Tag, wenn der Schal nicht wieder auftaucht!«

Dr. Böhler war bleich geworden. Er biß die dünnen Lippen fest aufeinander. Seine Stimme war leise, es war nur ein halbes Flüstern, als er sich an Major Worotilow wandte.

»Das ist doch unmenschlich, Major! Mit dieser Seide haben wir einem Menschen das Leben gerettet! Mit dieser Seide werden wir noch manchem das Leben erhalten! Und dafür sollen Tausende Unschuldiger büßen?«

»Ein russischer Schal ist mehr wert als 10.000 deutsche Leben!« Piotr Markow war vom Fenster emporgeschnellt und hatte es Dr. Böhler ins Gesicht geschrien. Jetzt stand er vor ihm, groß, hager, mit den Augen eines Fanatikers, zitternd vor Erregung . ein Hasser, der die Welt zerreißen konnte.

Dr. Böhler sah zu Boden. Spitz und scharf zeichneten sich seine Backenknochen in dem hageren Gesicht ab. »Dann kann ich ja gehen«, sagte er.

»Stolz ist er! Stolz!« schrie Markow wild. »Du deutsches Schwein! Wer hat gesagt: Es gibt zuviel Russen ... wir müssen sie verhungern lassen?! Wer wollte den Osten aufnorden? Wer hat unser Land ausgepreßt und hundert Mann erhängt, wenn ein deutscher Soldat erschossen wurde, weil er gestohlen oder geschändet hat?! Wer schickte nach Minsk oder Smolensk Gauleiter, die mit Lastwagen Möbel, Gemälde und wertvolle Teppiche nach Deutschland schafften? Wer? Wer, du deutsches Mistvieh?! Ihr! Euer Führer, der euch allein ließ, als es euch dreckig ging! Eure schwarze Bande mit dem Totenkopf hat gar meine Mutter und meinen Bruder erschlagen, weil sie des Nachts aus Hunger bettelnd durch die Dörfer zogen ... meinen Vater habt ihr umgebracht in Stalino, meine Schwester liegt unter den Trümmern von Charkow ... und ihr steht hier, stolz, frech und immer noch die Herren?! 100.000 Deutsche für einen zerrissenen russischen Schal! Bis ihr alle verreckt!«

Schaum stand vor seinem Mund. Er schwankte und ließ sich auf einen Stuhl fallen, der neben dem Tisch des Majors stand.

Worotilow sah auf seine Hände. Er duldete den Ausbruch seines Leutnants, und nur Dr. Kresin hatte sich in eine andere Ecke verzogen und grunzte mißbilligend. Dr. Böhler wandte sich ab und ging zur Tür.

»Wo wollen Sie hin?« rief Worotilow.

»In mein Lazarett! Die Kranken brauchen mich . die kranken, verletzten, jammernden, armen, hilflosen und dreckigen deutschen Schweine.«

Piotr Markow umklammerte die Kante des Tisches und schnellte den Oberkörper vor.

»Verrecken alle, verrecken.«, keuchte er atemlos.

Worotilow winkte ab. Seine Hand fuhr durch die Luft. »Dr. Böhler.« Seine Stimme war gelassen und ein wenig singend. Er kommt aus dem Süden, dachte Dr. Schultheiß. Vielleicht aus dem Kaukasus oder von der Krim. »Sie werden in den nächsten Tagen chirurgische Bestecke, Catgut, Narkosemittel und alle Dinge bekommen, die Sie brauchen. Ich bitte Sie, eine genaue Liste einzureichen, was Sie am allernötigsten brauchen! Dr. Kresin wird sie prüfen. Ich werde direkt nach Moskau schreiben.« Ein Lächeln flog über sein Ge-sicht . etwas von der uralten Weisheit der Asiaten schimmerte hinter der Maske der Zivilisation. »Das ändert aber nichts daran, daß Bascha Tarrasowa ihren Schal wiederbekommt! und daß Ihre Kameraden für den Diebstahl eine Woche lang 100 Gramm Brot weniger erhalten!«

»Sie sind grausam, Major.«

»Aber gerecht. Ich habe mir sagen lassen, daß ein Diebstahl in einem deutschen Gefangenenlager ganz anders bestraft wird.«

»Das sind Greuelmärchen!« Dr. Böhler trat wiederum einen Schritt vor. »Ich bitte Sie, Major . lassen Sie die armen Kerle nicht hungern! Wenn es sein muß, dann bestrafen Sie mich.«