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Böhler amüsierte sich über das Gesicht des russischen Arztes bei dieser Anrede. Gospodin - das hieß >Herr<. In der UdSSR sprach man nur noch von >Genosse Doktor<, das Wort Herr war streng verpönt.

Er antwortete nicht, sondern trat zum Waschtisch und begann, sich sorgfältig die Hände zu waschen. Dann erst wandte er sich um. Immer noch starrte ihn Kislew fragend an.

»Nix gutt?« stotterte er.

Böhler nickte langsam. »Nix gutt!«

Sergej Kislew schlug die Hände vor die Augen und lehnte sich gegen die Wand. Was er vor sich hin stammelte, verstand Böhler nicht. Aber am Klang erkannte er erschreckt, daß der Kommunist und Menschenschinder Sergej Kislew betete.

Dr. Böhler wandte sich ab und verließ den Raum. Er ging die Treppen hinunter und war noch nicht unten angelangt, als Kislew ihn einholte. Aus dem Redeschwall entnahm Böhler soviel, daß der Mann wünsche, er solle ihn begleiten. Wider Willen tat ihm Kislew leid, und er folgte ihm. Draußen wartete ein Privatwagen mit einem Chauffeur. Er brachte sie in wenigen Minuten in Kislews Haus, eine hübsche Villa in einem gepflegten Garten.

In der großen Diele setzte sich Böhler in einen weichen Sessel und lehnte sich weit zurück. Sein Wirt verließ ihn und bat ihn wortreich und mit vielen Gesten, einen Augenblick zu warten.

Ein Sessel! Ein weicher, gepolsterter Sessel. Teppiche. Tapeten an den Wänden. Türen aus Kirschbaum, ein runder geschnitzter Tisch.

Kristall in den eingebauten Wandschränken.

Böhler atmete die reine Luft, den Geruch eines leichten Parfüms, der über allem lag.

Er schloß die Augen. Köln-Lindenthal ... eine kleine Villa mitten im Grünen, in der Nähe des Stadtwaldes. Im Garten auf der Rasenfläche war ein Tischtennis aufgebaut. Er sah sich mit Margot, seiner Frau, spielen . sie hatte einen guten Schlag und jagte ihn hin und her. Und sie lachte hell. In ihren Augen leuchtete die Jugend und das Glück zu leben. Der Rasensprenger drehte sich. Das Wasser sprühte über sie hinweg, wenn er zu ihnen schwenkte. Dann lagen sie in den Liegestühlen und tranken Orangeade. Mein Gott, Orangeade. Daran erinnerte man sich jetzt. Auf der Reitbahn im Stadtwald trabten die Pferde. Ihr Fell glänzte in der Sonne. Fröhliche Worte flogen hin und her ... im Stadion, auf der großen Jahnwiese mit dem Denkmal des alten Turnvaters, jagten sie im Galopp dahin und überholten sich gegenseitig. Hell klang das Lachen durch den Sommerwind.

Dr. Böhler zuckte zusammen und erhob sich, als Sergej Kislew die Treppe herabkam. Er sah verfallen aus, gealtert, seine Augen flak-kerten.

»Du Sascha machen gesund«, sagte er bettelnd.

»Das ist unmöglich«, sagte Dr. Böhler. Er wußte, daß ihn Kislew nicht verstand, und er legte etwas Tröstliches in seine Stimme. Der Russe hörte es heraus, und seine Augen bekamen wieder jenen Funken Hoffnung, den Dr. Böhler in allen Augen sah, wenn er bewußt die Krankheit bagatellisierte.

»Ich würde ihn operieren, aber das kann ich hier nicht machen - nicht im Militärlazarett oder gar im Lager. Dafür sind Sie nicht eingerichtet. Er würde auf dem Operationstisch sterben! Ich brauche dazu einen gut eingerichteten Operationsraum mit den neuesten technischen Anlagen. Dann würde ich es wagen.«

Sergej Kislew nickte wiederholt. Sein Gesicht war voll Hoffnung. »Du machen gesund?«

Dr. Böhler sah zu Boden. »Wenn du wüßtest, wie die Wahrheit ist. Man wird nie erlauben, daß ein deutscher, kriegsgefangener Arzt in einem russischen Krankenhaus operiert. Das ist ganz unmöglich. Es wäre ein Sakrileg, wo Rußland die besten Chirurgen der Welt besitzt - wenigstens sagen sie es immer. Ich kann dir wirklich nicht helfen, Sergej Kislew.«

Der Bauunternehmer schien die Nennung seines Namens für ein gutes Zeichen zu halten. Er faßte Dr. Böhler am Ärmel und zog ihn mit sich fort. Er führte ihn in die Küche, wo ein Mädchen arbeitete, drückte ihn auf einen Stuhl und setzte ihm eigenhändig Wurst, frische Butter, weißes Brot, Früchte - im Winter - und amerikanische Fleischkonserven vor. Das Mädchen brachte Teller und Messer.

Mit großen Augen saß Dr. Böhler am Tisch.

Wurst! Gute, gelbe, fette Butter! Er nahm eine Scheibe Brot, bestrich sie fast andächtig mit der Butter und legte eine Scheibe Wurst darauf. Sergej Kislew lachte hinter ihm, er griff über seine Schulter hinweg in den Wurstteller und legte ihm mit der Hand sieben Scheiben auf einmal auf das Brot. Fünf Jahre Kohlsuppe ... fünf Jahre glitschiges Brot... 600 Gramm ... 200 Gramm ... ab und zu einmal dicke Bohnen oder eine dicke Suppe aus Kohl und Roggenmehl. Dr. Böhler aß das Brot mit den acht Scheiben Wurst. Er aß es nicht, er fraß es in sich hinein wie ein Raubtier, das hungernd herumstreifte und nun vor einer plötzlichen Beute steht. Ein Brot . zwei Brote ... drei ... dann legte er das Messer weg. Sein Magen war schwer wie Blei. Er erhob sich und sah, wie Kislew aus einer Flasche starken Krimwein in einen Pokal schüttete. Er trank . der Wein brannte in seiner Kehle, im Magen, in den Adern . es war, als durchströme ihn ein neues Leben.

Dr. Böhler überblickte den Tisch. Die Fleischbüchsen waren nicht angebrochen . die Butter war halb verbraucht . ein großes, nicht angeschnittenes Stück Wurst lag daneben. Er sah sich um, sah eine Zeitung auf dem Fenster liegen, ergriff sie, rollte die Wurst, die Butter, die Büchsen in sie ein. Sergej Kislew ließ es lachend geschehen und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

»Sascha machen gesundd!« sagte er glücklich. »Grosssses Arrrzt!«

Dr. Böhler biß die Zähne aufeinander. Wenn ich die Büchsen einteile und die Wurst auch, jeden Tag eine Scheibe, jeden Tag einen Teelöffel Fleisch, dann kann ich den schwersten Fällen im Lazarett eine Woche lang etwas Zusätzliches geben. Das ist eine Lüge wert, und Gott wird es mir verzeihen. Wir sind mit den Kräften am Ende im Lager. Fünf Jahre dieses Essen, und jetzt nur noch die Hälfte, weil die große Dürre im Sommer die Ernte vernichtete.

Sergej Kislew brachte Dr. Böhler pünktlich zum Appell ins Lager zurück. Major Worotilow schwieg lange, als ihm der Arzt die Wahrheit sagte. Kislew saß im Sessel am Tisch und rauchte beruhigt.

»Er weiß nichts?« fragte Worotilow.

»Ich konnte es ihm unmöglich sagen!«

»Soll ich.?«

»Bitte, nein, er wird es früh genug erfahren. Ja, wenn ich eine moderne Klinik hätte, mit allem, was dazu gehört.«

»Dann würden Sie operieren?« drängte Worotilow.

Böhler nickte. »Ja«, sagte er, »dann würde ich es versuchen, so gering die Chancen sind. Es wäre an sich keine schwere Operation, für einen weniger Schwerkranken, meine ich. Man müßte den Ort der Blutung suchen und sie stillen. Es gibt keine Krankheit, bei der man nicht Hoffnung haben könnte - und wenn es der Glaube an ein Wunder ist.«

»Sie glauben daran?« Worotilow sah Böhler aus den Augenwinkeln prüfend an.

»Wir haben viele seltsame Dinge gesehen, auch Heilungen, die man nach menschlichem Ermessen nicht mehr für möglich hielt. Der Himmel ist weit, Major Worotilow, und der Mensch ist unter ihm nur ein Sandkorn.«

»Aber Sie wollen Sascha Kislew nicht operieren?«

»Auf keinen Fall hier oder im Militärhospital. Das wäre reiner Mord.«

»Im Staatskrankenhaus Stalingrad operiert nur Professor Pawlo-witsch.«

»Dann soll er die Operation machen.«

»Er hat sich bereits geweigert, ohne den Patienten gesehen zu haben. Ihm genügt die Krankengeschichte.«

Dr. Böhler nickte bestätigend. »Sie genügt auch«, sagte er.

»Natürlich will der Herr Professor beim Sohn eines mächtigen Mannes keinen Mißerfolg riskieren - verstehe ich sehr gut. Nur daß man mir es zumutet. Wenn es schiefginge, müßte ich es ausbaden, würde unter Umständen bestraft, noch einmal zu Lager verurteilt ... zehn Jahre . zwanzig Jahre . ihr seid ja nicht kleinlich.«