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»Aber Sie würden ihn trotzdem im Staatskrankenhaus operieren, nicht wahr?«

»Ich würde es auf alle Fälle versuchen, ja - aber es ist müßig, darüber zu sprechen. Ich muß ins Lazarett.«

Er verließ das Zimmer. Erstaunt und verständnislos sah Kislew ihm nach. Warum ging der Arzt und ließ ihn allein? Und Sascha, sein Sohn? Kislew sprang auf und stürzte auf Worotilow zu.

Zwei Stunden später wurde Dr. Böhler bereits wieder abgeholt. Ein Sanitätswagen der Division fuhr ihn aus dem Lager, ein russischer Kapitän-Arzt, Studienkollege Dr. Kresins, begleitete ihn.

»Der Patient ist schon ins Staatskrankenhaus gebracht worden«, teilte er Böhler mit. Er sprach ganz gut Deutsch.

»Der Genosse Professor ist auf Ihre Operationsmethode sehr gespannt«, setzte er nach einer Weile hinzu.

Dr. Böhler riß die Augen auf und sah ihn ungläubig an. »Er will mich operieren lassen?«

»Dazu hole ich Sie ja ab.«

»Im Stalingrader Staatskrankenhaus? Das ist doch unmöglich.«

»Warum denn, Herr Kollege?«

»Ich bin ein deutscher Plenni!«

»Na und? Drei Kommissare sind ebenfalls in der Klinik. Man wird Sie der Form halber entlassen.«

Dr. Böhler fuhr herum, seine Wangen glühten. »Was heißt der Form halber?« Seine Stimme zitterte vor Erregung.

Der Kapitän-Arzt sah ruhig auf die verschneite Straße vor sich. »Das heißt, daß man Sie nach der Operation wieder gefangensetzen wird! Dazu sind die drei Kommissare da. Man wird Sie an Ort und Stelle wieder verurteilen. Es geht hier nur darum, daß wir Moskau überlisten und Sie als Privatmann in der staatlichen Klinik operieren lassen! Außerdem hat Sergej Kislew dem Lazarett fünfzigtausend Rubel gestiftet, wenn die Operation gelingt. Das zählt noch mehr.«

»Und das im Staate der Volksregierung! Dem Land ohne Klassenunterschied. Dem Paradies der Arbeiter!« Dr. Böhler lachte gequält. »Ihre Methoden sind wert, geschichtlich festgehalten zu werden!«

Der Kapitän-Arzt lächelte zurück. »Man wird es, Herr Kollege. Wir haben 1945 beim Einmarsch in Berlin bereits Geschichte geschrieben! Und wir werden sie weiterschreiben - wir allein! Mögen sich Amerika oder England mächtig fühlen und diplomatische Schlachten schlagen. Wir arbeiten in der Stille und gewinnen die Herzen der Völker - mit den gleichen Methoden, mit denen Sie heute den ganzen Tag ein völlig freier Mann sind. Der Chirurg Dr. Fritz Böhler aus Köln, der den ehrenvollen Staatsauftrag hat, in Stalingrad zu operieren. Am Abend sind Sie wieder Plenni.« Der Kapitän-Arzt lächelte mokant. »Die Geschichte will es so.«

Die riesige Staatsklinik lag weiß und still in einem Park außerhalb der Stadt. Eine der typischen russischen Monumentalbauten, die man den fremden Touristen zeigt und die den Aufschwung der sowjetischen Wirtschaft und Kultur repräsentieren sollen. Eine Mischung zwischen amerikanischer Wolkenkratzerarchitektur und russischer Neuklassik. Bauten, die an die Pläne Hitlers für die nächsten tausend Jahre erinnern.

In dem riesigen Foyer der Klinik stand, als Dr. Böhler nach einer kurzen Meldeformalität eintrat, ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem weißen Tatarenbart und leicht geschlitzten Augen in dem ledernen Gesicht. Er war etwas vorgebeugt und schlurfte nun ein paar Schritte heran, als die Pendeltür aufschwang.

Professor Dr. Taij Pawlowitsch.

Er reichte dem deutschen Arzt eine welke Greisenhand. Einen Augenblick empfand Dr. Böhler ein sichtbares Erschrecken. Mit diesen kraftlosen Händen operiert er?

Der Kapitän-Arzt wechselte einige schnelle Worte mit Professor Pawlowitsch, die Dr. Böhler nicht verstand. Es war eine Mischung zwischen Russisch und einem mongolischen Dialekt. Dann wandte sich der Arzt wieder zu ihm.

»Der Professor hat alles vorbereitet. Der Patient liegt im großen OP, er ist bereits gewaschen - in zehn Minuten wird er narkotisiert.«

Böhler unterbrach ihn brüsk. »Sie wollen doch nicht etwa eine Narkose geben?« Er schrie es fast. Die beiden Russen sahen ihn erstaunt an.

»Warum denn nicht?« fragte der Professor.

»Es kommt nur eine Lokalanästhesie in Betracht«, sagte Böhler bestimmt. »Mit einer Narkose würden wir ihn umbringen. Lokalanästhesie - ich werde sie selber vornehmen. Während der ganzen Operation Sauerstoff und Bluttransfusion durch Dauertropf in eine Knöchelvene. Bitte, lassen Sie diese sogleich anlegen, und stellen Sie die nötigen Blutkonserven zur Verfügung.«

Dr. Böhler hatte sehr bestimmt gesprochen. Die beiden Russen starrten ihn mit offenen Augen an, aber sie akzeptierten seine Autorität. Der Kapitän-Arzt verließ den Raum, um Böhlers Anordnungen auszuführen.

»Ich werde Ihnen assistieren«, sagte der Professor verbindlich, »ich bin sehr gespannt.«

Mit diesen Fingern, dachte Böhler, dieser kraftlose Greis. Er warf einen forschenden Blick auf den Professor. Dann sagte er schwach:

»Bitte!«

Der Kapitän-Arzt kam zurück. »Betrachten Sie sich bitte ab jetzt als Privatmann! Sie sind frei!« sagte er zu Böhler.

»Das ist sehr schön und sehr nett von Ihnen«, sagte Böhler mit deutlichem Spott. Er blickte zum Hintergrund der Eingangshalle. Dort standen drei Offiziere mit dem Zeichen des MWD: die drei

Kommissare.

Dr. Böhler atmete tief. »Gehen wir.«

Professor Pawlowitsch ging voraus. Sanitäter rissen die Glastüren vor ihnen auf. Ein langer, weiß gekachelter Flur, ein Vorraum mit blitzenden Kränen, großen, weißen Marmorbecken, zehn Schwestern, die mit weißen Mänteln, Gummischürzen, Hauben und Mundschutz bereitstanden. Heißes Wasser strömte in die Becken, eine Schwester reichte Seife und Bürste. Es war wie ein Traum, wie ein Märchen. Dr. Böhler schrubbte sich Hände und Arme ... er hielt die Hände unter den dünnen Strahl Alkohol ... eine Schwester streifte ihm die Handschuhe über . der Mundschutz wurde angelegt . die weiße Haube saß auf seinem langen, schmalen Kopf. eine andere Schwester band ihm die Gummischürze um ... lang, weiß, bis auf die Erde reichend. Durch die Tür trat ein junger Arzt ein, braun, drahtig, ein Armenier.

»Patient ist bereit«, sagte er knapp.

Professor Pawlowitsch sah Dr. Böhler an. Auch er war zur Operation bereit. Bestätigend nickte Dr. Böhler ihm zu. Der Professor ging voraus durch die kleine Tür. Geblendet, erschüttert blieb Dr. Böhler stehen: ein riesiger Raum, warm, in das gleißende Licht von vierundzwanzig Kristallampen gehüllt . hinter dem Operationstisch amphitheatralisch ansteigende Bänke ... auf ihnen über hundert russische Studenten und Studentinnen ... ein Schwarm von Assistenzärzten um den Tisch, Schwestern, Sanitäter, Sanitätsoffiziere. In der ersten Bankreihe ein dicker Bulldoggenkopf: Dr. Kresin. Daneben ein blasses, von schwarzen Locken umrahmtes Gesicht: Alexandra Kasalinsskaja. Neben ihr, blaß wie sie, mit kauenden Bak-kenmuskeln erregt hin und her rutschend, Major Worotilow.

Es hatte sich schnell herumgesprochen, daß ein Deutscher operieren würde.

Mit festem Schritt trat Dr. Böhler an den Operationstisch.

Der Körper des Jungen war mit warmen Tüchern abgedeckt, nur das Operationsfeld, die Magenpartie, lag frei.

»Ich mache jetzt die Anästhesie«, sagte Böhler, und der Professor gab seine Worte an die Operationsschwester weiter. Böhler sah ihr zu, wie sie eine große Spritze mit einer Kanüle versah und aus einem becherförmigen Gefäß aufzog. Dann reichte sie ihm die Spritze und machte sich sofort daran, eine weitere vorzubereiten.

Böhler stach die lange Nadel in die mit Jod bestrichene Bauchhaut und injizierte den Inhalt der Spritze. Der durchflutete nun das ganze Operationsgebiet, von den Rippen bis unter den Nabel und seitlich bis fast zu den Flanken.

Der Kranke war stark benommen und nahm die Vorgänge nicht wahr. Er atmete Sauerstoff durch eine Maske. Das Gas strömte ihm aus einer großen Flasche zu. Neben ihm saß eine Schwester und sprach leise auf ihn ein - beruhigende Worte, die man kaum hörte. Über den Köpfen der beiden war eine Art Zelt angebracht, das gegen den Operateur hin geschlossen und nach hinten offen war. Die Schwester unter dem Zelt kontrollierte zugleich den Puls des Patienten. Ein Assistent regulierte das Sauerstoffgerät.