Böhler war mit der Anästhesie fertig. Er ließ sich von einer Schwester die Handschuhe ausziehen und neue überstreifen. Dann wartete er geduldig, bis die Betäubung wirksam geworden war.
Der Kranke hatte kein schmerzlinderndes Mittel bekommen. Böhler wollte keinen Atmungsschaden riskieren. Sehr vorsichtig ließ er der an einer Knöchelvene angelegten Dauertropfinfusion mit Spenderblut Herzmittel zur Stützung von Herz und Kreislauf zusetzen. Ununterbrochen floß Blut in die Adern des ausgebluteten Kranken. Aber da drinnen floß es ebenso schnell wieder durch das blutende Geschwür in den Darm ab. Ein Faß ohne Boden. Wenn es nicht gelang, die Blutung zu stillen, gab es keine Rettung mehr. Und ob die Operation, eine ungeheure Belastung für den Schwerkranken, noch würde Hilfe bringen können, war mehr als fraglich. Es gehörte ein verzweifelter Mut dazu, sie überhaupt zu wagen.
Böhler nickte dem Professor zu. »Wir wollen anfangen«, sagte er knapp.
Der Professor sagte einige Worte zu seinen Mitarbeitern. Und das große Wagnis begann.
Böhler hatte den eröffnenden Schnitt genau in der Mitte des Bauches geführt, vom Brustbein bis unter den Nabel. Der Professor zog die Augenbrauen hoch. »Wir legen den Schnitt quer, von rechts oben nach links unten über den Magen«, sagte er.
Böhler nickte und meinte kurz, ohne sich in seiner Tätigkeit unterbrechen zu lassen: »Ich brauche viel Platz, denn wir werden Überraschungen erleben. Ich erweitere den Schnitt später nicht gern.«
Die Wundränder wurden sorgfältig abgedeckt, einige Blutgefäße mit Klemmen gegriffen, durchtrennt und abgebunden. Es blutete kaum aus dem Fleisch. In fliegender Eile setzte Böhler das Bauchspekulum ein, das die Wunde offenhielt, und öffnete das Bauchfell. Trotz der örtlichen Betäubung sind das immer schmerzhafte Verrichtungen, bei denen die Gefahr besteht, daß der Patient unruhig wird. Aber der junge Mann stöhnte nur ein wenig. Er schien selbst zu Schmerzäußerungen bereits zu schwach zu sein.
Böhler tastete die Leber ab. »Stark vergrößerte Leber«, sagte er zum Professor, »und Narbenbildungen im Bereich des kleinen Netzes.« Er bemerkte mit Genugtuung, daß er sich geirrt hatte, als er den Professor für schwächlich hielt. Der Mann arbeitete ausgezeichnet.
Minutenlang versuchte Böhler dann, tief in der Bauchhöhle eine Arterie zu finden, aus der erfahrungsgemäß die Blutung bei Zwölffingerdarmgeschwüren erfolgt. Es gelang ihm nicht, an sie heranzukommen.
»Ich schreite zur Magenresektion nach Billroth II«, sagte er kurz, kümmerte sich nicht um das erstaunte Gesicht des Professors, sondern fügte nur hinzu: »Ich komme nicht an das Geschwür heran.«
»Er hält es nicht aus«, flüsterte ihm der russische Chirurg zu. Aber Böhler sah nicht auf, er zuckte nur die Achseln.
Das Operationsteam befand sich auf eingefahrenen Pfaden. Die Instrumente gelangten ohne besondere Aufforderung in die Hände Böhlers, und der Professor kam seinen Absichten genau im richtigen Augenblick entgegen. In kürzester Frist hatte Böhler den Magen frei und konnte ihn abtrennen. Nur ein Drittel des Organs blieb zurück und wurde an einer Darmschlinge angeschlossen. Damit wur-de die durch das Wegnehmen des Magens unterbrochene Verdauungspassage wiederhergestellt.
Böhler durchtrennte die vordere Zwölffingerdarmwand und ließ die Wundränder mit Klemmen fassen und auseinanderspreizen. In der Tiefe gewahrte er nun ein kraterförmiges Geschwür. Es war etwa zwei Zentimeter groß. In der Mitte befand sich ein kleiner runder Krater, zwei Millimeter im Durchmesser. Aus dieser Öffnung sickerte ununterbrochen Blut an den Wänden des Geschwürs herunter. Böhler zeigte dem Professor die Stelle.
»Das hätte vor Wochen geschlossen werden müssen«, murmelte er, und der Professor nickte. Der Chirurg tupfte sanft den Krater ab. Es lösten sich Blutgerinnsel, und plötzlich schoß eine kleine Blutfontäne hoch.
»Naht!« rief Böhler und drückte den Zeigefinger der Linken auf die blutende Stelle. Die Operationsschwester reichte ihm eine eingefädelte Nadel. Er übernähte die Stelle mit einer Zickzacknaht, und es spritzte nicht mehr. Das Loch in der Arterie, aus dem die Blutung erfolgte, war geschlossen.
Bisher hatte der Patient die Operation besser durchgestanden, als man erwartet hatte. Jetzt aber, nachdem der entscheidende Moment vorüber, nachdem die Stelle der inneren Blutung gefunden und abgedichtet war, geschah es: »Der Blutdruck sinkt«, meldete der Arzt, der Puls und Blutdruck zu überwachen hatte. »Ich kann ihn nicht mehr ermitteln . auch der Puls setzt aus.«
Böhler legte das Instrument fort, das er in der Hand hielt, und riß sich die Handschuhe von den Händen.
Der Professor blickte ihn unverwandt an. In seinen kleinen Augen leuchtete etwas wie Triumph.
»Ich habe es ja gleich gesagt, daß es nicht gehen würde«, sagte er gezwungen sachlich. »Exitus - der Patient ist tot.«
Aber Böhler hörte nicht auf ihn. »Sehen Sie denn nicht, daß die Transfusion nicht mehr weitergeht?!« schrie er einen Assistenten an der darüber hatte wachen sollen. Aus dem Gefäß mit dem Blut aber war in den letzten Minuten nichts mehr in die Adern des Kranken
geflossen. Sein Blutkreislauf war zusammengebrochen.
»Geben Sie mir eine lange Kanüle und eine Punktionsspritze mit etwas Kochsalzlösung und einem Kreislaufmittel - was Sie gerade dahaben.«, forderte Böhler die Operationsschwester auf. »Und kippen Sie den Tisch - Kopf tief«, herrschte er die Helfer an. Seine Stimme war gepreßt. Sein Gesicht verriet bleiche Wut, und man sah, daß er sich mühsam beherrschte.
»Was haben Sie vor?« fragte der Professor beinahe ängstlich.
»Intrakardiale Bluttransfusion«, antwortete Böhler, während er schon die Herzgegend des Kranken mit Jod anstrich. »Machen Sie eine Rotandaspritze bereit und eine Blutkonserve!« befahl er der Schwester.
»Aber der Mann ist tot«, beharrte der Professor, »alles kommt zu spät. Er atmet nicht mehr!«
Böhler schüttelte den Kopf. »Das Herz ist gesund, es hat nur kein Blut«, sagte er unwirsch. »Geben Sie weiter Sauerstoff und machen Sie künstliche Atmung«, ordnete er an. Seine Anordnungen wurden prompt befolgt.
Er setzte die Spritze auf den fünften Zwischenrippenraum und trieb die Nadel in die Tiefe. Seine Hand merkte, wie der Widerstand des Gewebes plötzlich schwand, und er wußte, daß er jetzt den Herzmuskel durchstach und in die rechte Herzkammer eindrang. Alle sahen, wie Blut in die Spritze stieg, Blut direkt aus dem Herzen.
»Her mit der Rotandaspritze und der Konserve«, zischte er. Seine Wut hatte ihn noch nicht verlassen. Sie galt nicht den Russen, die nicht genügend achtgegeben hatten - er war wütend, weil ihm der Tod einen Patienten entreißen wollte. In fliegender Eile, aber ohne ein einziges Mal danebenzugreifen, schloß er die Spritze mit dem Zweiwegehahn an die Kanüle an, die in der rechten Herzkammer steckte und leise vibrierte. Wortlos verfolgte Professor Pawlowitsch die zielsicheren, unbeirrbaren Bewegungen dieser Hände.
Böhler zog den Kolben der Spritze auf und drückte ihn wieder in den Zylinder hinein. So pumpte er Blut ins Herz, langsam, eine Spritze voll nach der anderen. Das Gefäß, in dem sich die Blutkonserve befand, war etwa zur Hälfte geleert, als der Assistent meldete:
»Der Puls ist wieder da.«
Böhler ließ sich nicht stören. Er pumpte weiter Blut ins Herz. Zuerst leise, dann kräftig hob sich jetzt die Brustwand. Der Kranke atmete wieder.
Böhler wusch sich aufs neue. Er kümmerte sich nicht um das Raunen im Operationssaal. Aber eine tiefe Befriedigung erfüllte ihn. Ein wenig belustigte er sich auch darüber, wie die Russen vor Staunen nach Luft geschnappt hatten - die Augen des Professors und der Assistenten, sie hatten ihre Verblüffung doch nicht ganz verbergen können.
Böhler ging zum Tisch zurück und beendete die Operation. Abdecken des Geschwürs mit Bauchfell - das ging jetzt glatt und würde abheilen. Verschluß des Bauchfells, Wundnaht-Verband.