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Dann trat er vom Operationstisch zurück und blickte hinter das Zelt ins Gesicht des Kranken. Der hatte rosige Lippen.

Der deutsche Chirurg nickte seinen Mitarbeitern zu und machte eine leichte Verbeugung in den Saal. Dann ging er hinaus.

Am Abend kam Dr. Böhler wieder ins Lager zurück - der Wo-jennoplenni Dr. Böhler, Nummer 3/52864. Die drei Kommissare hatten ihn am Abend nach der letzten Untersuchung, und nachdem die erste Gefahr gebannt war, in der Klinik wieder verhaftet. Er zog seinen weißen Mantel aus, legte die weißen Schuhe ab. Die Kommissare übergaben ihn einem jungen Transportleutnant.

Als er die Gänge entlanggeführt wurde und in die große Eingangshalle kam, begegneten sie Professor Taij Pawlowitsch. Er ging an Dr. Böhler vorbei, als kenne er ihn nicht . er wandte nicht einmal den Kopf. Ein Plenni.

Der freundliche Kapitän-Arzt, der an der Anmeldeloge stand, drehte sich um und ging davon. Auch er grüßte nicht... er sah über Dr. Böhler hinweg. Ein Plenni.

Der Arzt biß die Zähne aufeinander. Rußland!

Vor dem Eingang des Monumentalgebäudes stand wartend Dr. Kre-sin. Er reichte Dr. Böhler beide Hände. Sein Atem flog. »Ich habe keine Worte«, schrie er. »Ich bin außer mir! Das habe ich noch nicht gesehen! Mein Junge.« Beinahe hätte er ihn umarmt. Da wußte Dr. Böhler, wo sein Zuhause war. Fast glücklich ging er zurück in das Lager. Als er in seinem Zimmer auf dem schmutzigen Bett lag, an die Decke starrte und eine Zigarette rauchte, als Dr. Kresin herumraunzte und auf die Kollegen in Stalingrad schimpfte, als Wor-otilow kam und heimlich eine Flasche Wein mitbrachte - er, der Kommandant! -, als die Kasalinsskaja und die Tschurilowa kamen, Dr. Schultheiß und Janina Salja, da war er zufrieden wie selten -da erkannte er staunend, daß er zu diesen Menschen gehörte, daß er ein Teil des Lagers 5110/47 geworden war.

»Ich muß mit Ihnen feiern«, sagte Worotilow herzlich. »Und wenn es Moskau hundertmal erfahren sollte. Ich möchte Ihr Freund sein, Dr. Böhler.«

Fünf Tage später erschien Sergej Kislew wieder im Lager. Er war sehr zufrieden mit dem, was ihm Professor Pawlowitsch gesagt hatte. Gesehen hatte er seinen Sascha nur zweimal - kurz nach der Operation, als er wie ein Toter aussah, und drei Tage später, als er schwach, aber voller Hoffnung in einem Einzelzimmer lag. Der Professor hatte ihm gesagt, es sähe ganz gut aus; der deutsche Arzt habe eine Operation gewagt, die es in der russischen Medizingeschichte noch nicht gegeben habe.

Nun war Sergej Kislew ins Lager gekommen, um sich zu bedanken. Er brachte keine Lebensmittel mit, keine für einen Plenni sinnlosen Rubel - er brachte eine Nachricht, eine Nachricht von Dr. von Sellnow.

Er hatte sich an die Worte Worotilows erinnert und im Lager 53/4 angerufen. Der Lagerkommandant hatte selbst gesprochen und gesagt, daß es Dr. von Sellnow ganz gut gehe. Er habe die Lungenentzündung überstanden und arbeite jetzt im Lagerdienst. Leichte Arbeit, Putzen und Handreichungen. Von dem Abkratzen der Die-len mit einer Glasscherbe hatte er nichts gesagt - wen ging das auch etwas an? Den Kislew überhaupt nicht! Und so hatte der Bauunternehmer angehängt und war ins Lager gefahren, um es Dr. Böhler zu sagen.

»Ich werde ihn mir zu Bauarbeiten holen und gut ernähren«, sagte er zu Worotilow, »wenn der Frühling kommt und die Bauten wieder beginnen. Vielleicht kann er meinen Sascha weiterpflegen - der Professor sagt, es kann lange dauern, ehe er wieder so ist, wie früher.«

»Dr. von Sellnow ist ein ausgezeichneter Arzt. Er war Chefarzt in einer deutschen Klinik.«

»Und warum sitzt er dann im Straflager?«

»Er hat einem Kommissar ein Auge ausgeschlagen.«

Sergej Kislew schaute Worotilow verblüfft an. »Einem Kommissar?« stotterte er. »Und er lebt noch, dieser Arzt?«

Worotilow hob die Schultern. »Sie haben gestern angerufen, Genosse Kislew - ob er heute noch lebt, das weiß keiner. Das weiß man nie im Lager 53/4. Ich möchte es wünschen.«

»Schrecklich.« Sergej Kislew wiegte den Kopf. »Aber wenn er einem Genossen das Auge ausschlug. Er ist eben doch ein deutsches Schwein.«

»Ein deutsches Schwein hat Ihrem Sascha das Leben gerettet«, meinte Worotilow sanft. Kislew schob die Unterlippe vor. »Dr. Böhler ist eine Ausnahme«, sagte er stockend. Er hatte es plötzlich eilig, wieder nach Stalingrad zurückzufahren. »Sagen Sie bitte Dr. Böhler, daß es seinem Kameraden gut geht. Und ich will versuchen, ihn im Frühjahr in meinen Bautrupp zu bekommen. Ich will es versuchen. Guten Tag, Genosse Major.«

Worotilow sah aus dem Fenster, als Kislew in seinen Wagen stieg und abfuhr. Sauerbrunn kehrte den Platz vor der Kommandantur.

»Dreckige Wanze«, sagte Worotilow in Richtung des abfahrenden Wagens. Er sagte es auf deutsch, und Hans Sauerbrunn hörte es.

Am Abend machte es im Lager die Runde von Mund zu Mund, von Baracke zu Baracke, von Block zu Block.

»Dreckige Wanze.«

Sergej Kislew wurde von diesem Tage an nie mehr anders genannt.

AUS DEM TAGEBUCH DES DR. SCHULTHEISS:

Nach langer Zeit kann ich wieder in meinem Tagebuch schreiben. Es war in den letzten Wochen, vor allem seit Weihnachten, so viel auf uns eingestürmt, daß ich keine Zeit und keine Muße fand, die Gedanken in Worte zu kleiden. Die Liebe Janinas erfüllt mich ganz . wir leben hier wie auf einer Insel ... wir vergessen, wo und was wir sind . wir gehen wie durch einen Traum, der uns Glückliche in eine schreckliche Gegend versetzte, aber unsere Liebe nicht zerstören kann. Das Lager, die gefangenen Kameraden, das schlechte Essen, die Sehnsucht nach der Heimat ... sie sind alle da, diese zermürbenden Tatsachen, aber doch liegen sie wie hinter einem Schleier.

Vor zwei Tagen bekamen wir wieder Post ... nicht nur die >Par-teianwärter<, sondern alle.

Auch ich . von Mutter.

Ihre zittrige Schrift bedeckt eng die Karte. Sie hat vor Aufregung sogar über den Rand geschrieben und auf der Rückseite in die Adresse . es ist ein Wunder, daß man die Karte so durch die Zensur gelassen hat.

»Mein liebster Junge!

Nun wird es bald Weihnachten sein, und mehr als sonst denke ich an Dich. Uns geht es allen gut. Franz ist schon vor drei Jahren aus englischer Gefangenschaft gekommen und ist jetzt Rechtsanwalt in einem großen Werk. Melittas Söhnchen ist jetzt zwei Jahre alt und viel bei mir. Ich erzähle ihm oft von seinem Onkel Jens, der dort so weit, weit weg in Rußland ist. Wir alle hoffen, daß Du bald wiederkommst. Prof. Höffkens war einmal hier und fragte nach Dir.

Er will Dich sofort in seiner Klinik anstellen, wenn Du kommst. Alle lassen Dich grüßen. Unsere ganze Liebe ist jetzt bei Dir, mein lieber Jens, mein Kleiner. Bleib gesund und komm wieder. Ich will Dich noch einmal sehen. Ich küsse Dich

Deine Mutti.«

Am Abend kam Janina zu mir ins Zimmer ... ich las ihr die Karte vor. »Einmal werde ich sie kennenlernen«, sagte sie. »Wenn du entlassen wirst, komme ich mit.« Sie legte den Kopf auf meine Schulter und strich mit den Fingern über die Schrift. »Wie sieht sie aus, deine Mutter, Jens? Wie du - blond, groß.?«

Und ich habe ihr von Mutter erzählt... eine ganze Nacht hindurch. Von dem ersten Tag an, an den ich mich erinnern kann. Ich spielte damals im Sandkasten, und Mutter saß auf der Einfassung und baute mit mir eine Burg. Sie hatte einen Eimer Wasser neben sich stehen und machte den Sand naß, damit er sich besser formen ließ. Franz, der Rechtsanwalt, war auf der Wiese hinter dem Haus und schoß mit Pfeilen auf eine große, strohgepolsterte Schießscheibe. Melitta war in der Schule ... sie übte immer das kleine >b< und bekam nie die Rundung heraus. Immer wurden sie eckig. Damals im Sand begann meine Erinnerung an Mutter; sie baute mir einen Tunnel, durch den ich meine Sandkarre fahren lassen konnte, eine Burg mit richtigen Zinnen, einem Wassergraben und mehreren Höfen. Dann kam Franz und schoß mir mit Pfeilen die Burg zusammen. Da habe ich geweint, und Mutter hat gescholten und gesagt, sie werde es am Abend dem Vater sagen, wenn er aus der Klinik kommt. Von da ab habe ich viele Erinnerungen an Mutter . nur schöne, bis auf die eine, wo sie krank war und der Arzt jeden Tag zweimal kam. Eine böse Bronchitis hatte sich festgesetzt und wollte zu Herzasthma ausarten. Man kannte damals noch keine Antibiotika, auch in der Forschung der Sulfonamide war man noch nicht soweit wie heute . nur langsam erholte sich Mutter, und Vater gab an dem Tag, an dem sie wieder ganz bei Kräften war und jung und schön aussah wie vorher - für uns Kinder wurde Mutter nie alt -, einen kleinen Hausball. Der Landgerichtspräsident war da und küßte Mut-ter die Hand. »Gnädige Frau«, sagte er ... das fand ich so komisch, daß ich laut kicherte hinter meiner Gardine, hinter der ich mich versteckt hatte, um alles mitzuerleben. Vater gab mir eine Ohrfeige . ich weiß es noch so genau, vor allen Gästen gab er mir eine . und schickte mich ins Bett. Später kam dann Mutter herauf und tröstete mich. »Wenn du größer bist«, sagte sie, »kannst du dableiben. Jetzt aber gehören kleine Jungen noch ins Bett.« Mutter glich immer aus, sie war immer mit einem guten Wort bei uns, sie verzieh uns immer.